«Hingubank. Ds Frouegfängnis»: Aus der Welt gerissen

Nr. 25 –

Dass Menschen in der Schweiz administrativ versorgt wurden, ist nicht lange her. Ein Theaterstück über das Frauengefängnis Hindelbank rückt das gern vergessene Stück Schweizer Geschichte ins Rampenlicht.

Und immer wieder wird das Laken gefaltet: Szene aus «Hingubank». Foto: Lara Morgan

Und dann tanzt sie an diesem Fest mit einem Mann, mit dem sie weder verheiratet noch verlobt ist, in den sie aber verliebt ist und er auch in sie – und die Frauen im Dorf reden: «Das ist doch ein Italiener?», «Sieht ihr Bauch nicht etwas verdächtig rund aus?», «Die ist doch selber schon ein uneheliches Kind». Ein Polizist betritt die Szenerie und holt sie ab: «Sie wissen schon, wieso» – aber das stimmt nicht. Er bringt sie in die Strafanstalt Hindelbank. Dort wird sie, wie es der Direktor Meyer bei ihrer Ankunft sagt, «zu ihrem eigenen Wohl» administrativ versorgt. Das heisst: Sie wird nicht gerichtlich verurteilt und weiss auch nicht, wann sie das Gefängnis wieder verlassen darf. Das Kind wird ihr weggenommen, sie danach zwangssterilisiert. 10 000 bis 20 000 Männer und Frauen, die meisten von ihnen aus der Unterschicht, wurden in der Schweiz bis 1981 administrativ versorgt. Unter anderem im Frauengefängnis Hindelbank.

Brüchig bis zur Schmerzgrenze

Eigentlich ist dieser Theaterabend im Kulturhof Schloss Köniz ein Gedankenspiel in verschiedenen Variationen: Stell dir vor, du kommst ins Gefängnis und darfst dort nicht mit den anderen Insassinnen sprechen; stell dir vor, du musst Tage in Einzelhaft in einem dunklen Keller verbringen; stell dir vor, du wirst regelmässig von einem der Aufseher vergewaltigt. Stell dir vor – und so weiter. «Hingubank. Ds Frouegfängnis» nimmt sich dieses traurige Kapitel Schweizer Geschichte zum Stoff. Fünf Frauen stehen im Zentrum, die von ihrem Alltag im Gefängnis erzählen und wie sie dorthin gekommen sind; sie berichten von ihren Träumen und vor allem von der Hoffnungslosigkeit. Die LaienschauspielerInnen kommen diesem Stück nur zugute; die jungen Frauen wirken, als wären sie tatsächlich aus ihrer gewöhnlichen Lebenswelt herausgerissen und ins Gefängnis hineingeworfen worden, brüchig bis zur Schmerzgrenze.

Nicht alle der dargestellten Insassinnen sind administrativ versorgt, einige haben tatsächlich Straftaten begangen, doch die Gewalt, die Willkür im Gefängnis, die betrifft sie alle. Geschickt, wie sich so Einzelschicksale zu einem grösseren Ganzen verweben, wie einem auf diese Weise klar und brutal Tatsachen vorgehalten werden. Die Geschichten der Frauen im Stück sind fiktiv, aber angelehnt an reale Begebenheiten – Direktor Meyer etwa, der die Frauen (in einem leider wenig überzeugend gespielten Beamtenberndeutsch) herumkommandiert, gab es wirklich; ebenso die Insassin Rasmieh Hussein, die wegen falscher ärztlicher Behandlung an Asthma starb, sowie den Leiter der Wäscherei, dem später sexueller Missbrauch nachgewiesen wurde.

2010 hat sich die damalige Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf offiziell bei den Menschen entschuldigt, die, meist in ihrer Jugend, Opfer einer administrativen Versorgung geworden waren. 2014 setzte der Bundesrat eine unabhängige ExpertInnenkommission ein, um dieses Kapitel der Schweizer Geschichte anhand von Quellen und Interviews mit ZeitzeugInnen aufzuarbeiten und einzuordnen. Regisseurin Nora Steiner hat für «Hingubank» in den daraus entstandenen Dokumenten gegraben. Die lose Geschichte, die sie daraus entwickelt hat, spannt sich zwischen 1969 und 1981 auf – eine Zeit, in der für die Frauen in der Schweiz auf allen Ebenen einiges im Argen lag, in der sich aber auch etwas bewegte. So verweist ein Radiobeitrag zu Beginn des Stücks auf den «Marsch auf Bern», als Tausende Frauen für ihr Stimm- und Wahlrecht demonstrierten – Teil einer Frauenbewegung, die in Hindelbank jedoch nicht Einzug hielt. Eine Szene zwischen dem Direktor und seiner Ehefrau, in der sie ihn überzeugen will, ihr Geld für eine neue Nähmaschine zu geben, zeigt eine andere Seite der damaligen Realität: dass es immer noch der Mann war, der das Haushaltsbudget verwaltete, auch wenn er davon keine Ahnung hatte.

Auch eine Klassenfrage

Die Gewalt, die die Frauen in Hindelbank erlebten, war nicht nur geschlechts-, sondern auch klassenspezifisch. Das Gefängnis mit seiner alltäglichen Willkür war fast ausschliesslich ein Ort der Unterschicht; schliesslich kamen Menschen auch deswegen hierher, weil man sie als «milieugeschädigt» wahrnahm – oder einfach zur Entlastung der Armenfürsorge. Und doch, so wird aus der Szene mit der Ehefrau deutlich, war der Handlungsspielraum der Frauen, egal welcher Schicht sie angehörten, immer kleiner als derjenige der Männer.

Und jener der Insassinnen in Hindelbank war winzig. Auf der Bühne bleibt ihnen ein blauer Streifen, auf dem sie sich bewegen können – und wo sie die allermeiste Zeit damit verbringen, ein grosses, weisses Laken immer und immer wieder neu zu falten: die ewige, zermürbende Routine der Wäscherei. Aufgelockert wird dieser so bedrückende Abend mit einigen Slapstickeinlagen. Nur schade, dass diese heiteren Szenen nur den Männern im Ensemble zustehen (auch wenn sie sich damit selber lächerlich machen). Man hätte den Frauen gewünscht, sie könnten sich mit einer auch nur kurzlebigen Leichtigkeit zumindest einmal ein Fensterchen aufmachen.

«Hingubank. Ds Frouegfängnis» in: Köniz Kulturhof Schloss Köniz, 27. Juni 2021, 19 Uhr, 28. und 29. Juni 2021 sowie 2. Juli 2021, 20 Uhr. www.kulturhof.ch