Nordirak: Die Welt soll nichts wissen

Nr. 25 –

Im kurdischen Autonomiegebiet im Norden des Irak hat die türkische Armee im April eine Invasion gestartet. Eine internationale Delegation wollte sich ein Bild vor Ort machen, doch schon am Flughafen in Deutschland sabotierten Sicherheitsbehörden das Vorhaben. Rekonstruktion einer verhinderten Delegationsreise.

Was im kurdischen Autonomiegebiet geschieht, soll geheim bleiben: Spezialkräfte der kurdischen Polizei verhindern in Erbil die Pressekonferenz der internationalen Delegation. Foto: Ronan @unwisemonkeys

Mit Ausreiseverboten belegt, in Ausschaffungszellen gesteckt, von Spezialeinsatzkräften umstellt: Das ist die erschütternde Bilanz einer internationalen Delegation, die in den Nordirak reisen wollte, um Aufmerksamkeit auf eine dort stattfindende türkische Invasion zu lenken. Seit dem 23. April attackiert die türkische Armee Gebiete in den Kandilbergen. Damit soll die kurdische Arbeiterpartei PKK aus ihrem Rückzugsgebiet vertrieben werden.

Die rund 150-köpfige Delegation, die aus Politikerinnen, Gewerkschaftern und Journalistinnen aus Deutschland und der Schweiz bestand, wollte am 12. Juni auf Einladung des Kurdischen Nationalkongresses von Düsseldorf nach Erbil fliegen – der Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion im Nordirak.

Bereits im Flughafen begannen die Probleme: Die deutsche Bundespolizei hielt laut eigenen Angaben 19 Personen fest (TeilnehmerInnen der Delegation sprechen von 25), darunter auch die Fraktionsvorsitzende der Linken in Hamburg Cansu Özdemir. 15 Menschen erhielten ein einmonatiges Ausreiseverbot. Auch Rebecca Schnabel. Die Aktivistin möchte ihren wahren Namen nicht in der Zeitung lesen, da sie noch mehr Repression befürchtet. «Wir haben schon am Flughafen gemerkt, dass wir beobachtet werden», erzählt sie. Bei der Passkontrolle hielt die Bundespolizei dann eine ganze Gruppe mit der Begründung fest, sie müssten prüfen, ob die Festgehaltenen schon «politisch in Erscheinung getreten» seien. Özdemir antwortete, natürlich sei sie das, sie sei Politikerin.

Es half nichts: Die Gruppe wurde in einen Seitenraum gebracht, nach mehreren Stunden Wartezeit fanden dann Einzelverhöre statt. «Danach sollte entschieden werden, ob wir ausreisen dürften», sagt Schnabel. «Die Politikerinnen und Politiker hätten sie aber auf keinen Fall behindern dürfen.» Diese hätten letztlich zwar keine Ausreiseverbote bekommen, aber durch die lange Wartezeit mehrere Flüge verpasst. «Da waren noch zehn Leute aus der Schweiz, denen sie auch nicht einfach so eine Ausreisesperre geben dürfen», sagt Schnabel. Offenbar wurden auch die SchweizerInnen zu ihren politischen Aktivitäten befragt. «Woher wussten die deutschen Behörden davon? Welche Daten wurden da geteilt?», fragt Schnabel. Wer ein Ausreiseverbot erhielt, so wie die Aktivistin, bekam einen Stempel in den Pass und einen Brief mit offizieller Begründung. Darin heisst es, die Beziehungen mit dem «Nato-Partner Türkei» würden durch «die Teilnahme europäischer Bürger» am Konflikt «negativ belastet».

Nach Kairo ausgeflogen

«Die übernehmen den Terrorsprech der Türkei», empört sich Franziska Stier. Die Parteisekretärin von BastA! aus Basel und Journalistin hat es bis zum Flughafen in Erbil geschafft – aber nicht weiter. Auch hier behinderte die Polizei die Delegation. Wer den Sicherheitsbehörden bekannt gewesen sei, sei in die Flughafenhalle gestellt worden, und wer mit ihnen gesprochen habe, sei als Teil der Delegation identifiziert und festgesetzt worden, sagt Stier. Die 36-jährige Baslerin hingegen schaffte es zunächst nach draussen: «Ich stand in der Sonne, hab geraucht und mit einem Politiker der Linkspartei gesprochen», sagt Stier. Dann sei ein Polizist gekommen und habe sie in eine «Lounge» gebeten. «Aber es ging nicht die Treppe hoch in die Lounge, sondern runter.» Runter in die Ausschaffungszelle. Stier und den anderen wurden die Pässe entzogen, JournalistInnen die Aufnahmegeräte und Kameras abgenommen. Fünf kurdisch-schweizerische DelegationsteilnehmerInnen traten in einen Hungerstreik. Die WOZ hat versucht, mit ihnen zu reden, doch aus Furcht vor weiteren Repressionen war keineR bereit dazu. «Ein Polizist fragte, wie viel ich fürs Visum bezahlt habe, der stand mit einem Bündel Geldscheinen vor mir, um das zurückzuerstatten», sagt Franziska Stier. Nach fünfzehn Stunden setzten die Behörden die Festgehaltenen, darunter auch Stier, in ein Flugzeug nach Kairo, von wo aus sie nach Frankfurt weiterreisten. Wer den Flug bezahlt hat, ist unklar.

Maja Hess dagegen ist bis in die Stadt Erbil gekommen. «Völlig unklar, wie ich das geschafft habe», sagt die Schweizer Ärztin am Telefon. Nach der Landung seien auch sie und ihre BegleiterInnen in den Fokus der Sicherheitskräfte geraten. Ein Kollege wurde ebenfalls an der Einreise gehindert, er habe eine schriftliche Erklärung dafür verlangt. Man teilte ihm jedoch bloss mündlich mit, er sei «auf einer Liste der Türkei». Hess wurde ebenfalls verhört: «Da sassen fünf Herren in einem kleinen Büro, die mich fragten, warum ich in Erbil sei, ob ich schon mal hier gewesen sei.» Als sie antwortete, sie würde hier Ferien machen, durfte sie gehen und nahm ein Taxi zum organisierten Hotel.

Letztlich konnten nur rund hundert TeilnehmerInnen der Delegation in die Stadt Erbil einreisen. Dort konnten sie zwar mit Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, einem Verband unabhängiger Journalisten, LGBTIQ-Aktivistinnen und Parlamentariern reden. Ebenso fand ein Treffen mit Safeen Dizayee von der Partei PDK statt, dem Aussenminister der irakischen Region Kurdistan. Doch eine geplante Reise der Delegation in die Kandilberge, um ein zerstörtes Dorf zu besuchen, kam nicht zustande, ebenso wenig eine Pressekonferenz im Uno-Büro in Erbil. Am Tag nach dem Treffen mit Dizayee fand die Delegation ihr Hotel von Spezialkräften der Polizei umstellt. «Als wir sie fragten, wer das angeordnet habe, gab uns ein Polizist nur eine sibyllinische Antwort», erzählt Maja Hess, «einen Verantwortlichen hätten wir ja gestern Abend getroffen.» Da die Polizei der Delegation nicht erlaubte, das Gebäude zu verlassen, verlegten sie die Pressekonferenz ins Hotel. Erst am Nachmittag, als klar wurde, dass die Delegation nicht als Gruppe aufbrechen würde, zog sich ein Teil der Polizei zurück.

Die Angriffe gehen weiter

Die kurdischen Behörden im Irak sind eng mit der Türkei verstrickt. Die Türkei betreibt 37 Militärbasen auf irakischem Boden. Das erlaubt ein 1998 geschlossenes Abkommen, das die kurdischen Behörden verpflichtet, die Türkei im Kampf gegen die PKK zu unterstützen. Die aktuelle «Operation Klauenblitz» ist bereits die 13. türkische Militäroperation im Nordirak seit 1984. Immer wieder kommen auch ZivilistInnen ums Leben, mindestens 99 zivile Opfer zählte die Menschenrechtsorganisation Christian Peacemaker Teams seit 2015. Wie viele bei den Angriffen seit Ende April in Kandil gestorben sind, ist schwer zu eruieren, mindestens 1500 Menschen sollen aus Dörfern vertrieben worden sein. Klarheit über die Zahl der zivilen Opfer und der Vertriebenen zu gewinnen, das war auch Ziel der Delegation. Abseits der medialen Aufmerksamkeit und ohne internationale BeobachterInnen ist es schwer, an gesicherte Fakten zu kommen. «Die Delegation sollte das Schweigen darüber brechen», sagt Maja Hess.

Die Reaktionen offizieller Stellen in Europa auf die Vorgänge in Düsseldorf und Erbil sind dürr. Auf die Frage, wie sich die deutsche Regierung dazu stellt, dass StaatsbürgerInnen in Erbil festgehalten wurden, antwortet das deutsche Auswärtige Amt lediglich, die lokalen Behörden seien zuständig. Das Schweizer EDA sagt, es sei nicht darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass Schweizer StaatsbürgerInnen in Düsseldorf vom Fliegen abgehalten worden seien. Die SchweizerInnen, die in Erbil festgehalten wurden, seien bereits in die Schweiz zurückgekehrt. Mehr könne man aufgrund des Datenschutzes nicht zum Zwischenfall sagen. Die deutsche Bundespolizei reagierte bis zum Redaktionsschluss nicht auf eine Anfrage.

Damit bleiben wichtige Fragen unbeantwortet: Wer ordnete die Massnahmen in Düsseldorf und Erbil an? Woher hatten die Behörden in beiden Ländern die Namen der Personen, die aufgehalten wurden? Und wohl am wichtigsten: Warum setzen deutsche Behörden die Interessen der türkischen Regierung gegen ihre eigenen StaatsbürgerInnen durch? Und gegen Schweizer StaatsbürgerInnen? Haben sie überhaupt die rechtliche Kompetenz dazu? Die Hamburger Abgeordnete Cansu Özdemir will gegen die Behandlung durch die Bundespolizei vor Gericht gehen, ihre Fraktionschefin fordert einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Vielleicht kann so etwas Licht ins Dunkel gebracht werden. Derweil gehen die türkischen Angriffe in Kandil weiter – fernab der internationalen Aufmerksamkeit.