Dominik Graf: «Jede Zeit ist mit jeder anderen Zeit verbunden»
«Fabian oder der Gang vor die Hunde» gilt als Erich Kästners wichtigstes und vor allem politischstes Buch. Der deutsche Regisseur Dominik Graf hat es jetzt mit Tom Schilling in der Hauptrolle verfilmt. Ein Gespräch über das Überleben in schwierigen Zeiten, unerwartete Wurmlöcher und die Vorteile der Routine.
WOZ: Dominik Graf, Ihre Verfilmung von «Fabian oder der Gang vor die Hunde» endet mit einer Bücherverbrennung. Kästners Buch wurde damals von den Nazis verbrannt. Worin lag die politische Sprengkraft des Romans? Wohl nicht in der angeblichen Pornografie.
Dominik Graf: Nein, sicher nicht. Ausserdem wurde in den ersten Auflagen auch einiges von der «Pornografie» gestrichen. Ich glaube, dass es die Darstellung einer kranken Gesellschaft war, die die Offiziellen am meisten erregt hat. Kästner wird ja nicht müde, Berlin als Irrenhaus zu bezeichnen, das einen lemmingartigen Weg in den Untergang vor sich hat. Das wollen diktatorische Machthaber natürlich nicht hören.
Sie eröffnen den Film mit einer Kamerafahrt, die aus dem Untergrund der Gegenwart direkt in die dreissiger Jahre führt. Wollten Sie da eine direkte Verbindung herstellen?
Man geht ja mit der Kamera durch eine U-Bahn-Station Richtung Ausgang, und da gibt es einen Moment, wo sich die jungen Leute so merkwürdig links im Bild sammeln, wie vor etwas, das auf sie zukommt und auf das sie gewartet haben. Die Kamera nimmt dann den rechten Weg, der relativ frei ist, in die Vergangenheit gewissermassen. Wenn man das so nehmen will, dann ist links der Weg in die Zukunft. Wie die da Schlange stehen wie vor einer Erweckung, das ist schon ein Bild für: «Na, passt mal auf, was da auf euch wartet.»
Und das wäre?
Wir haben im Moment eine Situation, in der die ganzen katastrophalen Entwicklungen ab 1990 im deutschen Osten auch auf den Westen übergesprungen sind: eine zerborstene Gesellschaft, die in der Mitte geteilt ist. Die, die unten sind, haben nach ihrem Empfinden überhaupt keine Chance mehr, nach oben zu kommen, was von jenen oben stillgeschwiegen wird. Dadurch entwickeln sich unten Kräfte, die immer stärker werden. Die AfD ist ein Teil davon, aber es ist nicht nur die AfD.
In einer anderen Szene rücken Sie ins Trottoir eingelassene Stolpersteine ins Bild, die an Opfer des Nationalsozialismus erinnern …
Das war improvisiert. Bei der Probe sah ich die Schauspieler mit ihren hochhackigen Schuhen auf dem Pflaster rumklappern. Da guckte ich runter und sah die Stolpersteine, und plötzlich hatte ich die Idee, die zu zeigen. In dem Moment bohren wir quasi ein Wurmloch zur Gegenwart oder aus der Sicht des Films zur Zukunft dieses Ortes. Die Leute werden merken, dass damals in diesem Haus Juden wohnten, die später abgeholt wurden. Jede Zeit ist mit jeder anderen Zeit verbunden.
Das Stolpern scheint ja nötig zu sein: Die Leute in der U-Bahn, die achtlos am Naziplakat vorbeilaufen, oder auch Fabian, den es kaum kümmert, wenn eine Gruppe Braunhemden an ihm vorbeizieht …
Man hat die Nazis lange nicht ernst genommen. Das ist ja immer eine gefährliche Reaktion des bürgerlichen Mittelstands – sich quasi für unberührbar zu halten und sicher zu sein, dass sich die Verrückten auf beiden Seiten schon wieder beruhigen werden. Ich glaube, dass dieses Übersehen damals eine der wichtigsten Ursachen dafür war, dass alles so weit kommen konnte und vor allem auch so schnell. Diesen Eindruck sollte man auch bei dieser Szene von Fabian haben: «Ach, da kommen ja drei Braunhemden. Mutti, guck einfach nach vorne!»
Walter Benjamin kritisierte Kästner als Nihilisten, der es sich in seiner Hoffnungslosigkeit routiniert eingerichtet habe. Würden Sie Kästner da in Schutz nehmen?
Schwierig. Er fällt ja unter jene deutschen Schriftsteller, die den Weg in die sogenannte «innere Emigration» genommen haben. Er hat sich arrangiert. Was mich an solchen Anklagen dann aber wieder abstösst: Wir wissen doch alle nicht, wie wir reagieren würden. Menschen wollen überleben, manchmal um jeden Preis. Wir massen uns da manchmal moralische Urteile über Situationen an, die wir selber nicht bewältigt hätten. Kästner bleibt für mich ein brillanter Schriftsteller, der gewisse Entscheidungen sehr pragmatisch, vielleicht sogar kleinmütig getroffen hat. Eine schwierige Persönlichkeit, gewiss. Aber diesen moralischen Massstab, den die heute Lebenden anlegen, finde ich anmassend.
Zurück zum Film. «Fabian» ist im 4 : 3-Format gedreht. Die Kamera scheint sich dem Chaos der Zeit unterzuordnen, einmal wird der Film sogar kurz zum Stummfilm. Sind das Distanzierungsstrategien?
Nein, im Gegenteil. Es geht darum, ein Gefühl für die Zeit zu bekommen. Der Kern der Geschichte war für mich in jeder Hinsicht die Liebesgeschichte. Es gibt nicht viele deutsche Autoren, die so gute Liebesszenen – samt Auseinandersetzungen – schreiben können wie Kästner. Das andere ist natürlich der Versuch, die Leute in diese zwanziger Jahre eintauchen zu lassen. Mit unvermittelter Direktheit in die Nacht und in die Clubs rein. Man erkennt kaum jemanden, dreissig Leute reden durcheinander: Das sind Stilmittel, die nicht als Spielereien eingesetzt sind, sondern dem Gefühl der Zeit entsprechen. Der Splitscreen, die Gleichzeitigkeit, war ein Mittel des Stummfilms. Und die Menschen damals, die haben für mich immer in 4 : 3 existiert. Ich hätte das nicht im Breitwandformat drehen können.
Im Gegensatz zu Kästners Fabian ist Ihrer viel näher daran, ein Buch zu schreiben. Eines, in dem er schreiben soll, «was war und wie es hätte sein können». Blitzt da etwas von einer Hoffnung in die Literatur auf, die vielleicht das Kino so nicht mehr erfüllen kann?
(Lacht.) Die Figur des Labude hofft ja, dass Fabian das, was war, so präzise sehen kann, dass man es später in seinem Roman wiedererkennt. Es gibt immer genug Autoren, die die Dinge einfach nur verschmieren und billig verkaufen. Man sollte im Film das Gefühl haben, dass Tom Schilling einen superguten Roman hätte schreiben können – wenn ihm die Zeit geblieben wäre.
Und das Kino?
Das ist eine andere Geschichte. Ich glaube, dass das Kino irgendwann den Zugang zu den Zuschauern verloren hat. Das kommt auch wieder durch eine Teilung, die immer der Anfang allen Übels ist: auf der einen Seite das Arthouse, auf der anderen der Kommerz. Diese Schubladen bekämpfen sich seit vierzig Jahren teilweise erbittert, bis in die Förderungsstrukturen. Die Verbindung von grosser Erzählkunst mit Publikumszuspruch ist irgendwie beerdigt worden. Das Kino hat ohne Not Ansprüche preisgegeben, eben zum Beispiel Filme für alle zu machen. Zudem wird seit Jahrzehnten auch wahnsinnig viel an den Filmen rumgentrifiziert, werden gesellschaftliche Agenden abgearbeitet, anstatt den Ursprung des Kinos als Jahrmarktkunst zu pflegen! Und andererseits regiert im Kommerzgetto überwiegend völlige Plattheit. Im Sinne von: Wenn wir noch Geld verdienen müssen, dann dürfen wir in puncto Anspruch höchstens einen Punkt kriegen. Nichts gegen die «The Fast and the Furious»-Filme, die finde ich sogar ziemlich gut. Aber dass nur noch Komödien und Action funktionieren, keine Zwischengenres mehr, das ist natürlich traurig.
Sie haben auch eine Vorliebe für ein bestimmtes Genre, von dem man fast sagen könnte, dass Sie es mit Routine betreiben …
Ja, den Polizeifilm. Ich kenne kein anderes Genre, das so perfekt Gesellschaften beschreiben kann. Fast vierzig Jahre mache ich das leidenschaftlich und, ja, auch mit Routine. Routine macht Spass, man lernt, zügig eine Szenerie mit Polizei und Blaulicht zusammenzustellen. Du weisst, wie der Polizeiwagen stehen muss. Und das machst du dann vielleicht immer gleich? Nichts gegen Routine, auch nicht in der Kunst!
Neuerdings drehen Sie mit «Die geliebten Schwestern» oder jetzt mit «Fabian» aber auch Literaturverfilmungen. Woher kommt dieses Interesse?
Das kommt stark aus dem Gefühl für die Sprache, für die Erzählerhaltung, für den Ton, für die Formen der AutorInnen. Die Nouvelle Vague betrieb eine tolldreiste Art von literarischem Kino; Texte aus dem Off waren oft wichtiger als die Bilder, manchmal sogar ohne literarische Vorlage. Ich denke, dass das chronisch Unexperimentelle an Literaturverfilmungen auch immer ein wenig feige ist. Die adaptierte Hochliteratur, die ja auch ihre Heimtücke, ihre Ecken und Abgründe hat, wird so weichgespült.
Kästner bezeichnete «Fabian» als ein moralisches Buch. Ist daraus ein moralischer Film geworden?
Ich hoffe nicht! Moralische Fingerzeigfilme interessieren mich nicht. Kästners «Moral» habe ich auch immer für eine Verkleidung gehalten. Dazu guckt mir Fabian zu fasziniert in diesen Abgrund, auf den die Menschen freudig zulaufen und aus dem die Lava schon emporquillt.
«Fabian oder der Gang vor die Hunde». Regie: Dominik Graf. Deutschland 2021. Jetzt im Kino.
Dominik Graf
Er gilt als einer der profiliertesten Film- und Fernsehregisseure Deutschlands. Seit den achtziger Jahren ist Dominik Graf (68) insbesondere für seine Inszenierungen zahlreicher Folgen von «Tatort» und «Polizeiruf 110» bekannt wie auch für seine Beiträge zum deutschen Genrekino («Die Katze», 1988, oder «Die Sieger», 1994). Der zehnfache Grimme-Preisträger gilt als grosser Filmliebhaber und äussert sich auch regelmässig publizistisch zu Filmthemen.
Mit «Die geliebten Schwestern» (2014) über das Liebesleben Schillers und mit seiner neuen Erich-Kästner-Verfilmung hat sich Graf auch einen Namen als origineller Vertreter eines literarischen Kinos gemacht.