Timm Kröger: «Alte Filme sind die einzige Zeitmaschine, die wir haben»
Wenn die Physik so abgehoben ist, dass man mit ihr wieder Budenzauber betreiben kann: Regisseur Timm Kröger über Pastiche und Paranoia in seinem metaphysischen Thriller «Die Theorie von allem».
WOZ: Timm Kröger, wollen wir über Kino reden oder lieber über Quantenphysik?
Timm Kröger: Definitiv Kino. Auch da kenne ich mich nicht wirklich aus. Aber allemal besser als in der Physik.
Angesichts Ihres Films glaube ich Ihnen nicht, dass Sie sich im Kino nicht auskennen.
Das ist ja so ein bisschen hindilettiert. Manche Leute scheint der Film einzuschüchtern, aber ich wollte nie ein Ratespiel nur für Cinephile machen. Es hilft natürlich, wenn man schon mal einen Hitchcock-Film gesehen hat, aber wer hat das nicht? Und wir haben nur selten bewusste Referenzen benutzt. Ich wollte so eine Kinovertrautheit erzeugen: Dass man am Anfang in einer irgendwie merkwürdig vertrauten Welt ist und dann in einen Film gezogen wird, der sehr dunkel, albtraumhaft, labyrinthisch wird. Das hat mich interessiert bei diesem Film: das Gefühl, in die Vergangenheit reisen zu können. Da wir nicht in die Zukunft schauen können, sind alte Filme die einzige Zeitmaschine, die wir haben. Da gibt es Sachen, die wir vielleicht längst vergessen haben und die uns wieder überraschen können.
Woran denken Sie da?
Das fängt mit der Art an, wie Schauspieler vor die Kamera gestellt werden, wie sie gehen, wie sie beleuchtet werden, wie sie reden und sich verhalten. Das ist ja auch Teil einer früheren Psychologie. Auch wenn das alles Lügen sind – und Spielfilme sind ja vor allem gelogen und konstruiert –, verraten die doch etwas über ihre Zeit und über die Menschen, die da gelebt und gefühlt haben.
Und wie sind Sie genau auf diese Film-noir-Welt gekommen, 1962 in den Schweizer Bergen?
Am Anfang hatte ich skifahrende Physiker und ein Geheimnis unter dem Berg im Kopf: Hitchcock trifft David Lynch trifft Erich Kästner sozusagen. Ich wollte aber nicht, dass das nur postmodern ironisiert wird, sondern dass man sich so lange in diesem Stil und in dieser Welt befindet, dass man aufhört, darüber nachzudenken – dass es gleichzeitig ernst genommen und unterminiert wird. Wie gut das gelungen ist, muss das Publikum beurteilen. Ich wollte, dass aus dieser albernen deutschen Heimatfilmwelt etwas Erwachsenes wird – eine Reise zu einem anderen Umgang mit Emotionen.
Für den Protagonisten?
Ja, und auch für mich und für den Film selber. Das, was ich an dem Film wirklich gelungen finde, ist, dass er recht erfolgreich keine klare Haltung einnimmt, was seinen Protagonisten angeht: Wir haben einen Menschen, der vielleicht ein Genie ist – aber vielleicht auch ein schlafwandelnder Idiot, der irgendwelchen metaphysischen Schatten hinterherjagt. Und was wir davon zu halten haben, sagt uns der Film kaum. Das finde ich aber richtig so. Ich weiss selber nicht, was die Realität ist. Genauso ist es mit den grossen Fragen, die der Film implizit stellt: Gibt es Schicksal? Hat das Leben einen Sinn? Und was passiert mit dieser Idee von Individualgenie, wenn man sich kurz mit der Frage nach unendlich vielen Welten beschäftigt? Das stösst einen natürlich vor einen Abgrund.
Wieso musste der Kongress im Film in einem Hotel in der Schweiz stattfinden?
Es gibt natürlich literarische Vorlagen, an die man sofort denkt, wie Friedrich Dürrenmatt oder «Der Zauberberg» von Thomas Mann. Aber warum in der Schweiz? Das haben die Leute von der Filmförderung Osttirol, wo wir grosse Teile der Aussenaufnahmen gemacht haben, auch gefragt. Dann habe ich nur gesagt: Wie klingt denn das, ein Physikerkongress in Osttirol? Klingt nicht ein Physikerkongress in der Schweiz gleich besser, geheimnisvoller, irgendwie dunkler? Man kann natürlich sagen, das sei nur für einen Norddeutschen wie mich so, dass die Schweiz wie eine Blackbox ist. Aber ich finde, das Wort birgt ein gewisses Geheimnis, eine gewisse Fremdheit, die man zumindest in diesem Filmgenre konstruktiv benutzen darf. Je mehr ich mich aber in der Schweiz aufhalte, desto mehr wird mir klar, dass das natürlich eine reine Projektion ist.
Wieso das denn?
Oder zu grossen Teilen eine Projektion. Wenn man vom Meer kommt, sind die Berge immer noch dunkel und geheimnisvoll und beeindruckend.
Aber die Schweiz ist doch tatsächlich eine Blackbox, wenn man an ihre Geheimkonten denkt, an das Réduit und andere Tunnel im Berg.
Die Tunnel mussten wir leider in Thüringen drehen.
Das ist aber schade. Nochmals zu den Stilmitteln: Alles an Ihrem Film lebt vom Pastiche, also von einer Nachahmung älterer Stilmittel.
Man kann das unter Pastiche subsumieren, aber das ist hier nicht nur wie eine Tapete gedacht, die irgendwie dekorativ oder ein bisschen interessant sein soll. Es ist die Substanz selbst, würde ich sagen. Filme sind das beste Medium, das wir haben, um uns einer Traumlogik anzunähern. Dazu gehört auch, Tropen und Archetypen des alten und auch gegenwärtigen Kinos immer wieder hervorzuholen, zu gebrauchen, zu missbrauchen, neu zu pervertieren. Ich finde, Träume funktionieren ganz ähnlich.
Wie schwierig war es denn, den Geist dieses alten Kinos aufleben zu lassen? Das geht ja von der Musik bis zur Schauspielführung.
Konkret muss man den Schauspielern manchmal sagen, hey, spielt jetzt mal weniger. Im Film noir ist es mehr oder weniger Grundbedingung, fast nichts zu tun: der passive Protagonist, der einer Verschwörung hinterherrennt, die er vielleicht bis zum Ende nicht ganz versteht. Und diese Blicke und dieses steinerne Gesicht, das ist nicht immer leicht.
Mit dem Hauptdarsteller Jan Bülow hatte ich lange Diskussionen, weil er den Instinkt hatte, das Drama zu spielen. Aber wie Hitchcock sagte: «You don’t do the acting, the camera does the acting.» Das Drama macht die Kamera – und die Musik. Das war eine kleine Schwierigkeit, aber das ist auch bei zeitgenössischen Filmen so, dass man Schauspielern seine eigene Vorstellung von Naturalismus nahebringen möchte.
«Die Theorie von allem» ist auch ein Film über Paranoia, also über den Verdacht, dass die Welt in Wahrheit anders funktionieren könnte, als es scheint. In diesem Punkt ist das dann doch ein sehr heutiger Film.
Wobei sich Paranoia in fast jeder Zeit feststellen lässt. Film noir ist grundsätzlich ein paranoides Genre. Es geht um unverdaute Geister, auch um das Trauma des Zweiten Weltkriegs – eine Katastrophe, die sich nie ganz begreifen lässt und die dunkle Nachbeben nach sich zieht. Ich weiss nicht, was die Katastrophe unserer Zeit ist, es gibt ja Katastrophen zuhauf. In der Zukunft scheint noch eine viel grössere Katastrophe zu liegen, und wir fühlen uns in einer immer komplexeren Welt gefangen, die wir nicht mehr so einfach navigieren können wie vielleicht noch im 20. Jahrhundert. Das hat vielfältige Gründe, aber wir haben zum Beispiel immer weniger Vertrauen in Expertenwissen. Das ist nicht nur ein Problem für jede Demokratie, sondern sozusagen für die persönliche Epistemologie, also für die Frage, wie man die Welt begreift. Wie viele Menschen in Deutschland glauben an Chemtrails oder dass 5G-Strahlung irgendeine Form von Verschwörung sei! Wenn jetzt Leute in den USA meinen, wieder Trump wählen zu müssen, hat das auch zu tun mit einem Grundgefühl von Paranoia in einer Welt, die sich nicht mehr ganz begreifen lässt und die extreme Erschütterung in der Zukunft verspricht.
Womit wir jetzt indirekt doch noch bei der Physik gelandet sind. Die ist heute auch nur für wenige Eingeweihte zu begreifen.
Physik ist so spezialisiert, dass sie fast wieder zur Magie mutiert ist. Aber die ganze Wissenschaftsgeschichte ist ja voll mit esoterischem Denken. Auch Isaac Newton hatte magische Gedanken, und C. G. Jung konnte noch 1902 als Medizinstudent eine Doktorarbeit über paranormale Phänomene schreiben. Die Abspaltung des Rationalen gab es in dieser Form erst im 20. Jahrhundert. Und weil Physik mittlerweile so abgehoben und unerreichbar ist, kann man mit ihr heute wieder Budenzauber betreiben. Das ist immer ein Element von Kino gewesen: Kino als Jahrmarkt. Das Kino war immer eine schöne Art, diese spukhaften Fernwirkungen, die in der Physik beschrieben werden, kurz zum Leben zu bringen und an sie zu glauben.
Die Zeit der frühen Quantentheorie ist auch eine unglaubliche Fundgrube an Anekdoten und Legenden. Nur schon dieser Ausspruch von Wolfgang Pauli, der im Film zitiert wird: «Das ist nicht nur nicht richtig, es ist nicht einmal falsch!»
Von Pauli gibt es auch diesen berühmten Briefwechsel mit C. G. Jung, den man kaum verstehen kann, wenn man sich weder mit Jung noch mit Quantenphysik beschäftigt hat. Das ist übrigens ein weiterer Grund, warum der Film in der Schweiz spielt: Es ist das Land von C. G. Jung. Der hat ja ein merkwürdiges Revival zurzeit, vor allem jenseits des Atlantiks. Dort hat Jung mittlerweile die grössere Gefolgschaft, wenn man an Leute denkt wie Jordan Peterson, diesen Alt-Right-Pseudophilosophen. Manche Ideen von Jung finde ich extrem krude, andere sehr interessant. Auf jeden Fall sind sie sehr konstruktiv, wenn man Filme macht. Ob das jetzt noch Wissenschaft zu nennen ist, sei mal dahingestellt. Eher nicht.
Ihr Film endet mit einem langen Epilog: Wie die Geschichte weitergehen würde, alles im Konjunktiv, gesprochen vom Filmemacher Dominik Graf. War er Ihre Wunschbesetzung?
Ich weiss nicht genau, was ich für eine Stimme im Kopf hatte. Aber der Film handelt von Krawattenträgern, Schwanzträgern und Chauvinisten, und von prekärer Männlichkeit. Dann muss das auch ein Mann einsprechen, ein alter Gott aus dem 20. Jahrhundert, der über all dem steht. Der Einzige, der mir einfiel, war Dominik Graf.