Fussball: Wenn die Linke «Goooaaaaaal!!!» schreit
Von der offensichtlichen Unfähigkeit der Linken, sich angesichts eines Balls auf grünem Rasen vom Patriotismus abzusetzen. Eine Replik.
Der Versuch von Adrian Riklin (den ich nicht nur als Journalisten sehr schätze), sich den letzten Rest Fussballpatriotismus auszutreiben, scheint mir nach der Lektüre der WOZ Nr. 25 doppelt misslungen: als Verhaltensexperiment und als Artikel. Was die WOZ endlich einmal breit (und mit Aufmacher auf der Frontseite) thematisieren müsste, ist die Frage, warum es ein beträchtlicher Teil der Linken einfach nicht schafft, sich emotional vom Spitzenfussball zu verabschieden. Mithin also von einer der korruptesten und verlogensten Ausformierungen des globalen Kapitals im 21. Jahrhundert. Familiäre Prägungen und Kindheitserzählungen würde man wohl nicht durchgehen lassen, wenn ein Redaktor damit seine anhaltende (Rest-)Begeisterung für Börsenspekulation, Schützenvereine, Kampfhunde, Formel 1, Machowitze, Kampfjets oder koloniale Eroberungen begründen und literarisch verbrämen würde.
Nationalhymne im «Palace»
Vielleicht habe ich ja mit meiner Sozialisation einfach Glück gehabt. Meine Geschichte ist rasch erzählt und enthält keine Anekdoten über legendäre Spiele, Traumpässe oder leidenschaftliche letzte vier Minuten in der Verlängerung. Mein Vater war Bauernsohn und Büezer, meine Mutter Köchin. Für Fussball interessierte sich niemand in der Familie. Schon mein Grossvater hatte gesagt, man solle den zwei Teams einfach zwei Bälle geben, dann höre das Theater auf. Natürlich habe ich als Bub nachmittagelang auf der Quartierwiese tschuttet und mir einmal sogar ein Buch über eine WM gekauft. Das wars dann, und ich weiss heute nicht einmal mehr, um welche WM es sich handelte.
Seit meiner Politisierung in den späten siebziger Jahren interessiert mich Fussball nur noch als sportsoziologisches Phänomen. Mich treibt die Frage um, wie es möglich ist, dass zusammengekaufte Truppen von Wander- und Leiharbeitern mit Geltungskonsum diese urban-patriotischen («meine Mannschaft», «meine Stadt») und nationalen («unsere Nati», «die ganze Schweiz») Gefühle auslösen können. Ich weiss mittlerweile (für einen Fussballverächter) ziemlich viel über das Spiel, so wie ich auch in den achtziger Jahren viel über die Armee wusste, die ich als Mitglied der GSoA abschaffen wollte.
Lang dachte ich, Menschen im bürgerlichen Lager oder im ideologischen Niemandsland zwischen «Blick», «Samschtig-Jass», Einfamilienhaus, Shoppingcenter und Benzinpreis würden einfach die existenzielle Einsamkeit nicht aushalten, die entsteht, wenn man sich von kollektiver Gefühlsidentität abkoppelt und im Freundes- und Bekanntenkreis nicht mitschwingt, wenn es wieder mal um EM- und WM-Qualifikationen, Turnierpaarungen, Meisterschafts- und Cupspiele und die Aufgeregtheiten des europäischen Klubfussballs geht. Denn schliesslich entsteht gesellschaftlicher Zusammenhalt durch das Erzählen von Geschichten (von Fallrückziehern, Penaltyschiessen, Schiedsrichterfehlentscheiden). Die Linke, so nahm ich (zu) lange an, müsste dagegen immun sein, weil sie es gewohnt ist, sich in der Minderheit, in der Verliererrolle, in der Aussenseiterposition, im Nicht-mitgemeint-Sein innerhalb der nationalkonservativen Schweizer Identität wiederzufinden.
Erste Zweifel kamen mir, als der FC St. Gallen im Jahr 2000 Schweizer Meister und die Stadt samt einem Teil der Linken von einer Welle fussballerischen Wir-Gefühls überspült wurde. 2016 wurden dann im linken Kulturzentrum Palace die Spiele der EM in Frankreich gezeigt, samt Grill, Tippspiel und Livekommentar. Als dann bei einem Spiel der (seit 1993 CS-gesponserten) Schweizer Nati aus den Kehlen vor allem junger Männer im «Palace» die Schweizer Hymne ertönte, verstand ich erst mal die Welt nicht mehr. Seither versuche ich, eine Debatte über linken Rest-, Voll- und Teilzeitpatriotismus in Gang zu setzen, leider ohne Erfolg. Das Enttäuschende ist für mich dabei, dass ich kaum Argumente zu hören bekomme. Ein Teil der von mir Kritisierten gibt mir zu verstehen, ich hätte ja eigentlich schon recht, aber man habe halt einfach Freude an einem guten Spiel. Ein Teil reagiert leicht beleidigt, und ein weiterer Teil meint, wer nicht mit Fussball aufgewachsen sei, könne das alles gar nicht verstehen. Wer will, kann auf louverture.ch/die-linke-und-der-spitzen-fussball versuchen, meine «Sechzehn lästigen und moralisierenden Fragen zu Konsum, Besitz, Produktion und Weitergabe von Spitzenfussball» zu beantworten. Bisher hat sich noch niemand getraut.
Parteiübergreifend schön?
Der linke Autor Pedro Lenz hat einmal gesagt: «Im Fussball gibts keine Oberen und Unteren, Fussball ist einfach Schutte.» Der linke Journalist Pascal Claude hat erklärt, wenn im Bundeshaus alle zusammen EM-Fussball schauten, habe das etwas «Klassenloses, Parteiübergreifendes, Schönes». Der linke Kabarettist Gabriel Vetter hat sich als Fan der Nati geoutet und gleichzeitig das Geschichtchen vom Roberto-Baggio-Penalty von 1994 zum Besten gegeben. Da möchte man in Anlehnung an Wilhelm II. ausrufen: «Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Fussballfans.» Wie oft hat man mir versichert, man interessiere sich nur für den antirassistischen FC Winterthur, den SC Brühl im Grüninger-Stadion, den antifaschistischen FC St. Pauli. Aber wenn es mit der WM und der EM wieder losgeht, ist man doch wieder dabei.
Herr K.
Darum habe ich es mit einer von Bertolt Brecht inspirierten Geschichte versucht: Herr K. hörte von einem Dorfkönig, über den die meisten sagten, er sei ein geldgieriger Geschäftsmann, ein korrupter Lokalpolitiker und ein skrupelloser Intrigant. Einmal im Jahr machte dieser widerliche Dorfkönig seinem Renommee und seinen Geschäften zuliebe ein Fest mit Essen, Trinken und Musik. Dazu lud er die Leute aus dem Dorf in den grossen Saal des örtlichen Restaurants ein, dessen Wirt ein guter Freund des Dorfkönigs war. Am Fest durften jeweils auch ein Journalist und ein Fotograf der Lokalzeitung nicht fehlen.
Fast alle aus dem Dorf gingen hin und begründeten dies damit, dass sie schon immer hingegangen seien und auch ihre Eltern schon. Das Essen sei halt jedes Jahr vorzüglich und der Wein von ausgesuchter Qualität. Ausserdem könne man trefflich mit den Leuten aus dem Dorf plaudern und Meinungen über die Zubereitung der Speisen, die Herkunft der Trauben und die dargebotenen Musikstücke austauschen. Wer noch nie dort gewesen sei und die Stimmung noch nie erlebt habe, könne im Übrigen gar nicht urteilen. Nachdem Herr K. diese Geschichte gehört hatte, sagte er: «Wer einen Mächtigen und dessen Bosheit durchschaut und sich trotzdem regelmässig von ihm bewirten lässt, ist ein Charakterlump.»
Mein Geheimtipp (nach emotionslosem Anschauen des Spiels Schweiz – Frankreich): Europameister werden die Bandenwerber von Alipay, Fedex, Booking.com, Tiktok, Coca-Cola und Qatar Airways.