Gut zu wissen: Sklaven der Umstände

Nr. 26 –

Ruedi Widmer über Amazon, Google und Sulzer

In Winterthur baut Amazon ein Rechenzentrum. Fünf glänzende Quader entlang der Bahnstrecke nach St. Gallen im Quartier Neuhegi, auf ehemaligem Sulzergelände. Sie sehen aus wie Bürohäuser. Jeder Block verbraucht so viel Strom wie 10 000 Haushalte. Der Stromverbrauch der 110 000-Einwohner-Stadt wird signifikant steigen. Die Elektrizitätswerke stellen dem Zentrum eine Anschlussleistung von 55 Megawatt zur Verfügung. Der höchste gleichzeitige Strombezug der gesamten Stadt Winterthur betrug 2020 nur knapp das Doppelte: 100 Megawatt.

Wirklich bekannt ist der Bau dieser fünf Blöcke nicht in der Stadt. Wissen tun davon allenfalls die Leute, die noch Zeitung lesen, und, Medienkrise, das sind die Achtzigjährigen, die oft nicht wissen, was Amazon und Google wirklich sind. Manche finden vielleicht, ja, Wirtschaft, Arbeitsplätze, das braucht Winterthur. Das finde ich auch. Aber in einer solchen Serverfarm gibts nicht viel Arbeit für Menschen. Bei den Jüngeren ist das alles kaum ein Thema.

Ja, fuck Amazon, hört man manchmal. Und fliegen ist eine Sünde. Millionen von Menschen schaffen es, ohne Amazon zu leben. Ich zum Beispiel. Millionen brauchen Google. Ich zum Beispiel. Ich muss für diesen Text auch mal etwas nachschlagen.

Die Energiewende ist ein Witz, und der Kampf gegen den Klimawandel ein Gag, wenn der Stromverbrauch unserer Gesellschaft ins Unermessliche steigt. Einerseits ist da das virtuelle Bitcoin-Geld, das sich kaum noch in geordnete Bahnen bringen lässt, weil seine Ordnung ja im kleinteiligen Chaos liegt: ein megalomanischer Stromfresser, der mehr verbraucht als ganze Staaten. Andererseits sind die trendigen Streamingdienste wie Netflix und Spotify auch riesige trendige Stromfresser. Hörte ich einst Radio, wurde ein Signal einmal übertragen und von Tausenden von Empfangsgeräten empfangen. Schaue ich Netflix, wird die Filmdatei nur für mich heruntergeladen und von Millionen weiteren Menschen auch nur für sich. Höre ich auf Spotify dreimal dasselbe Album (zum Beispiel das Avalanches-Album «We Will Always Love You» – super), dann streamt es das dreimal von irgendwo auf der Welt her. Wenn ich es runterlade und auf dem iPod anhöre, dann läuft immer dieselbe Datei bei mir in der Tasche. Das Abfragen bei Google braucht viel Strom, weil innert Sekundenbruchteilen das ganze Netz durchsucht wird. Googeln tut nicht nur der böse Energieverschwender, sondern auch du und ich und auch jede Klimademonstrantin.

Wie war meine Kindheit, ohne Mobile, ohne Internet? Sie war ganz okay. Sie fand in einer stickigen Industrieluft statt, als Winterthur noch Sulzer City hiess. Bei kaltem Wetter gab es Schnee in Winterthur, es war der «Industrieschnee», dessen Flocken sich um die Russteile in der Luft bildeten. Die Ölheizung heizte, und die Hitze entwich durch die nicht isolierten Fenster. Die Autos stanken. In der Töss durfte man nicht baden, das Wasser war zu dreckig. Wir waren Sklaven der Umstände.

Im Lokalen leben wir heute in einer viel saubereren Welt als vor vierzig Jahren. Aber während «wir» am Markt in der Steinberggasse Biogemüse kaufen und dann mit dem Velo heimfahren und uns dabei auch noch anmassen, uns irgendwie «grün» zu fühlen, stellt fünf Kilometer weiter ein US-Gigant Rechenzentren auf, vermutlich mit deutschem Kohlestrom betrieben, anonym, verschwiegen und nicht präsent im öffentlichen Bewusstsein, hinweg über sämtliche Lokalpolitik, auch hinweg über die «Diktatur»-Wutbürger, die so etwas, wenn sie davon überhaupt je erführen, natürlich begrüssten («Wirtschaft», «Vaterland», «Der böse Staat darf nicht eingreifen»).

LokalpolitikerInnen wollen nun die Abwärme davon für die Heizung des vor allem in linken Kreisen angedachten zweiten Hallenbads nutzen. Das kaum mit den inexistenten Steuereinnahmen von Amazon bezahlt wird. Lächerlich. Wieder Sklaven der Umstände.

Ruedi Widmer (Winterthur) hat doch nur Angst, dass der Strom für seine digitalen gezeichneten Cartoons knapp wird.