Kunst: Geschmälerte Schlagkraft
Yael Davids zeigt im Zürcher Migros-Museum, wie Verhaltens- und Denkmuster sich gegenseitig beeinflussen. Von der Anlage her eigentlich eine hochpolitische Ausstellung – doch das Politische bleibt aussen vor.
Machtstrukturen schaffen ein Raster, in dem sich unsere Körper bewegen. Sie definieren die Grenzen unserer Wahrnehmung, sie bestimmen, was wir sehen – und was eben nicht. Jeder Ort ist mit diesem unsichtbaren Raster versehen, mit den Codes, die damit einhergehen. So auch das Museum: Wir laufen im Uhrzeigersinn durch den Ausstellungsraum, daran gewöhnt, dass Inhalte in dieser Reihenfolge aufbereitet werden, von links nach rechts, der westlichen Logik folgend. Oder wir neigen dazu, zuerst den Text an der Wand zu lesen, bevor wir uns dem Werk selbst widmen, weil wir es «verstehen» möchten.
Nicht «über», sondern «mit»
Wie sich Bewegungs- und Denkmuster wechselseitig beeinflussen, thematisiert die israelische Künstlerin Yael Davids in ihrem Forschungsprojekt, das aktuell im Migros-Museum zu sehen ist. Ihre installativen Arbeiten bestehen etwa aus weissen und schwarzen Stoffbahnen, die sich durch die Ausstellung ziehen und unseren Standpunkt spürbar werden lassen. Denn stehen wir vor einer dieser Bahnen, müssen wir uns entscheiden, in welche Richtung wir gehen. Ähnlich verhält es sich mit verschiedenen Glasscheiben, die an der Wand lehnen oder von der Decke in unser Blickfeld ragen. Sie reflektieren das Licht, versperren uns die Sicht, werfen den eigenen Blick auf uns zurück – so, wie wir persönliche Erfahrungen auf die Aussenwelt projizieren, von uns auf andere schliessen und dadurch individuelle Erzählungen zu kollektiven verabsolutieren.
Bereits an dieser Stelle wird deutlich: Yael Davids interessiert sich für die Wahrnehmung der BesucherInnen und wie sich diese verändern lässt, indem verinnerlichte Verhaltensmuster aufgebrochen werden. Dabei widmet sie sich besonders der Frage, inwieweit Kunst nicht nur intellektuell rezipiert, sondern auch körperlich erfahren werden kann. Davids hat dafür ausgewählte Werke der Sammlung, die ebenfalls in der Ausstellung zu sehen sind, in Bewegungssequenzen unterteilt, die auf die Lehre von Moshé Feldenkrais zurückgehen. Diese Bewegungen können an Workshops von den BesucherInnen erprobt werden, um nicht wie gewohnt etwas «über» die Werke zu erfahren, sondern «von und mit» ihnen zu lernen, wie es im Booklet zur Ausstellung heisst. Damit stellt Davids sogleich den institutionellen Rahmen infrage, beispielsweise was die Wissensvermittlung angeht. Inhalte sind nicht etwa vorgegeben, sondern sollen in den jeweiligen Workshops kollektiv erarbeitet werden.
Die Ausstellung gibt sich durchaus kritisch, doch ihre politische Dimension – die Einschränkung des Körpers durch Machtstrukturen, der Körper als Konfliktfeld – wird nur marginal erwähnt, obwohl sie vielen Werken eingeschrieben ist. Ein Beispiel dafür ist die Installation «Water Composition II» von Senga Nengudi. Darin setzt sich die Künstlerin mit dem weiblichen Schwarzen Körper auseinander und damit, wie dieser durch Erfahrungen der Diskriminierung geprägt wird. Dafür hat Nengudi blau gefärbtes Wasser in Vinylfolie eingeschweisst und mit Seilen an der Wand befestigt. Ähnlich, wie das Material die Fliessrichtung des Wassers definiert, bestimmen gesellschaftlich konstruierte Geschlechterrollen und rassifizierte Stereotype die Alltagserfahrung Schwarzer Frauen. Wie bei den raumgreifenden Installationen von Davids wird auch bei Nengudi deutlich, dass sich diskriminierende Sprache oder Vorurteile wie Mauern durch unsere Lebensrealität ziehen, aber nur für jene spürbar werden, die ihnen täglich ausgesetzt sind.
An der Hundeleine
Auch bei der Österreicherin Valie Export kommt die gesellschaftspolitische Relevanz ihres Werks nicht zur Geltung. Um Geschlechterverhältnisse sichtbar zu machen, führte sie 1968 im Rahmen der Performance «Aus der Mappe der Hundigkeit», die in der Ausstellung als Schwarzweissfotografie zu sehen ist, ihren damaligen Partner Peter Weibel an einer Hundeleine durch die Strassen. Als letztes Beispiel soll die Installation «A Reading That Loves, a Physical Act» von Yael Davids dienen, die gleich am Eingang der Ausstellung zu sehen ist und diese quasi eröffnet. Anlässlich der Documenta 14, wo die Arbeit ebenfalls zu sehen war, thematisierte Davids die Einschränkung der Bewegungsfreiheit palästinensischer BürgerInnen durch Strassensperren und -kontrollen. Diese bewusste Methode der Unterdrückung wirkt sich nicht nur physisch, sondern auch psychisch aus, etwa in Form von Gefühlen wie Angst oder Erniedrigung, die wiederum körperliche Verhaltensmuster hervorrufen. Doch auch diese Perspektive, ohne die sich das Werk nicht wirklich erschliesst, bleibt im Migros-Museum aussen vor.
In dieser Ausstellung soll es um die körperliche Erfahrung von Kunst gehen, nicht so sehr um den Inhalt. Doch stellt sich dabei die Frage, ob dadurch nicht die gesellschaftspolitische Dimension der Kunst aus dem Blick gerät, etwa bei Senga Nengudi oder Valie Export. Genügt es, sich diesen Werken auf einer vorgegebenen körperlichen Ebene zu nähern? Schmälert man damit nicht unweigerlich ihre politische Schlagkraft? Oder kann diese Schlagkraft vorausgesetzt werden? Eine inhaltlich-diskursive Kontextualisierung wäre in diesem Fall wünschenswert gewesen.
Yael Davids: «One Is Always a Plural». Bis 5. September 2021 im Migros Museum für Gegenwartskunst. www.migrosmuseum.ch