Haiti: Wer erschoss den Präsidenten?

Nr. 28 –

Jovenel Moïse hat mit rabiaten Methoden versucht, in den kleinen Zirkel der Superreichen aufzusteigen. Das führte in Haiti schon immer zu blutiger Gewalt.

Steckt die Oligarchie des Landes hinter der Tat? Am Sonntag bewacht ein Polizist die Residenz des ermordeten haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse. FOTO: ORLANDO BARRIA, KEYSTONE

Nur auf den ersten Blick scheint alles klar: Nach Darstellung der Polizei sei in der Nacht zum Mittwoch vergangener Woche kurz nach ein Uhr ein Kommando aus gut zwei Dutzend Kolumbianern und zwei US-Amerikanern in die festungsartig geschützte Residenz des haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse im Nobelviertel Pétionville am Rand der Hauptstadt Port-au-Prince eingedrungen. Sie hätten zwei Hausangestellte gefesselt, den 53-jährigen Staatschef mit zwölf Schüssen niedergestreckt und seine Frau Martine schwer verletzt. Schon wenige Stunden später wurden ein gutes Dutzend Verhaftete präsentiert. Zwei oder drei der Kolumbianer – die offiziellen Angaben nennen beide Zahlen – seien erschossen worden.

Der zweite Blick auf die Vorgänge wirft Fragen auf. Moïse war stets von bis zu hundert LeibwächterInnen umgeben. Wie kann es sein, dass diese Sicherheitsleute keinen der Eindringlinge verletzt haben? «Die offiziellen Verlautbarungen sind konfus», sagt ein mit den Ermittlungen vertrauter Anwalt zur WOZ. Demnach starb der Präsident kurz nach ein Uhr. «Die Überwachungskameras der Residenz aber haben die Ankunft der Kolumbianer um 2.49 Uhr registriert.» Zudem seien sie es gewesen, die die schwer verletzte Präsidentengattin ins Krankenhaus gebracht hätten. Der Anwalt hält es für wahrscheinlicher, dass Moïse die Kolumbianer unter Vertrag genommen hatte – zu seinem eigenen Schutz.

Das deckt sich mit Recherchen der «New York Times», die in Kolumbien die Schwester eines der Getöteten ausfindig gemacht hat. Dieser war von der in den USA ansässigen Sicherheitsfirma CPU angeheuert worden, um – so hatte er es der Schwester erzählt – in Haiti einen «sehr wichtigen Mann» zu schützen. Wenige Stunden nach dem Tod des Präsidenten schickte er ihr eine Textnachricht aufs Mobiltelefon: Man sei «zu spät» gekommen, um diesen Mann «zu retten». Um ihn herum werde geschossen. Er habe sich versteckt und habe Angst. Kurz darauf wurde der Kolumbianer von der Polizei erschossen.

Präsidentenmorde gehören von Anfang an zur Geschichte Haitis. Der erste traf Jean-Jacques Dessalines, der am 1. Januar 1804 nach dem Sieg aufständischer Sklaven über die Streitkräfte der Kolonialmacht Frankreich die Unabhängigkeit ausgerufen hatte und Staatschef des neuen Landes wurde. Gut zwei Jahre später fiel er einer Intrige seiner Generäle zum Opfer. Seither haben nur wenige Präsidenten das Ende ihrer Amtszeit erreicht. Wer nicht rechtzeitig ins Exil floh, wurde ermordet. Moïse ist der sechste Präsident des Landes, der getötet wurde. Immer steckten hinter diesen Morden und Staatsstreichen Konflikte innerhalb einer sehr kleinen und sehr reichen Oligarchie, die aus der Revolution hervorgegangen ist.

Mächtige Feinde

Zu dieser Elite gehörten zum einen die Söhne und Töchter weisser Plantagenbesitzer und Schwarzer Frauen. Sie besassen selbst grosse Ländereien und vor dem Aufstand viele Schwarze Sklaven. Zu diesen kamen Schwarze Heerführer der Aufständischen. Sie alle wollten die Plantagenwirtschaft gegen den Willen der grossen Mehrheit der Bevölkerung weiterführen. Weil sie sich nicht durchsetzen konnten, verlegten sie sich darauf, den Import und Export sowie die Politik zu beherrschen.

Immer wenn neue Gruppen versuchten, in diesen exklusiven Zirkel aufzusteigen, kam es zu Gewalt. Ende des 19. Jahrhunderts etwa gab es eine Einwanderungswelle aus dem Libanon und Syrien. Die Neuankömmlinge etablierten sich aufgrund ihrer internationalen Kontakte schnell im Handel. Ein 1905 von der Elite angestacheltes Pogrom gegen sie war die Folge. François Duvalier, der als Landarzt aus bescheidenen Verhältnissen 1957 zum Präsidenten gewählt wurde und eine 29-jährige Familiendiktatur errichtete, konnte sich nur mit der brutalen Gewalt seiner Terrormiliz unter den Superreichen etablieren.

Auch Moïse hat versucht, sich mit rabiaten Methoden zum reichsten Mann des Landes zu machen. Dass er überaus korrupt war, ist in einem Untersuchungsbericht des Senats ausführlich belegt. Er ging aber auch mit der Hilfe von bezahlten kriminellen Banden gegen Konkurrenten vor und hat sich dabei mächtige Feinde geschaffen. So hat Moïse dem Unternehmer Dimitri Vorbe das lukrative Monopol für die Stromversorgung des Landes entzogen und ihn mit Drohungen ins Exil in die USA vertrieben. Dann baute er zusammen mit seiner Frau ein eigenes Elektrizitätsunternehmen auf.

Die Firma von Reginald Boulos, dem grössten Automobilimporteur des Landes, wurde drei Mal von derselben Bande angegriffen. Hunderte Neuwagen gingen in Flammen auf. Ähnlich erging es der Supermarktkette von Anthony Bennett, dem Bruder der ehemaligen Frau des einstigen Diktators Jean-Claude Duvalier. Sie wurde drei Tage lang von kriminellen Banden geplündert, die Polizei schaute zu. Auch mit seinem Amtsvorgänger und politischen Ziehvater Michel Martelly hatte sich Moïse überworfen. Martelly, ein ehemaliger Popsänger, war selbst als Präsident zum steinreichen Mann geworden und wollte nach Moïse für eine zweite Amtszeit kandidieren. Moïse aber wollte, dass seine Frau seine Nachfolgerin wird.

Institutionelles Chaos

Wer hinter dem Präsidentenmord steckt und wer ihn ausgeführt hat, ist ungewiss. Man kann aber davon ausgehen, dass es sich nicht um den Versuch eines Staatsstreichs handelt, sondern um die blutige Abrechnung in einem Konflikt in der Oligarchie. Wie es mit der Staatsführung weitergehen soll, ist völlig offen. Moïse hat um sich herum eine institutionelle Leere geschaffen. Als vor zwei Jahren das Mandat des Abgeordnetenhauses ablief, hat er einfach keine Neuwahlen ausgeschrieben. Dieser Teil des Parlaments ist seither verwaist. Auch im dreissigköpfigen Senat ist die Amtszeit von zwanzig Senatoren abgelaufen, ohne dass neue gewählt worden wären. Moïse regierte in den vergangenen beiden Jahren mit Dekreten.

Zu allem Überfluss hat Haiti derzeit zwei Verfassungen, die die Nachfolge eines im Amt verstorbenen Präsidenten unterschiedlich regeln. VerfassungsrechtlerInnen streiten sich, welche von beiden gültig ist. Die von 1987 sieht vor, dass der Präsident des obersten Gerichtshofs Übergangspräsident wird. Dieser Richter aber ist im Juni an Covid-19 gestorben. Eine Verfassungsänderung von 2012 schreibt dagegen einen Übergangspräsidenten vor, der von Senat und Abgeordnetenhaus gewählt wird. Entsprechend erhebt Joseph Lambert, der Vorsitzende des Rumpfsenats, Anspruch auf die Nachfolge Moïses. Allerdings wurde diese Verfassungsänderung bislang nur auf Französisch veröffentlicht und nicht in der zweiten Amtssprache Kreyol. Ihre Gültigkeit kann deshalb angezweifelt werden.

Am Morgen nach dem Attentat trat Premierminister Claude Joseph vor die Presse und erklärte, er habe die Regierungsgeschäfte übernommen. Kurz darauf meldete sich mit Ariel Henry ein zweiter Premierminister. Dieser war von Moïse kurz vor seinem Tod zum Nachfolger von Joseph ernannt, aber noch nicht vereidigt worden. Legitimität hat keiner der beiden. Nach beiden Verfassungen wird der Premierminister vom Präsidenten vorgeschlagen, muss dann aber vom Parlament bestätigt werden, was weder bei Joseph noch bei Henry geschah.

Trotz dieses Gerangels blieb es an den Tagen nach dem Präsidentenmord in Port-au-Prince ruhig. Auch das zeigt: Es handelt sich um einen Machtkampf innerhalb der ganz schmalen Schicht der Superreichen. Mit dem Leben der verarmten grossen Mehrheit der Haitianer, die mit umgerechnet durchschnittlich zwei Franken durch einen Tag kommen muss, hat dieser Konflikt nichts zu tun.