Haiti Nach dem Erdbeben: «Wie in einem dystopischen Film»
Die nach dem Präsidentenmord selbsternannte Übergangsregierung ist von der Katastrophe heillos überfordert und vor allem mit sich selbst beschäftigt. Die Bevölkerung muss sich einmal mehr selbst helfen.
Auch zehn Tage nach dem schweren Beben ist die Lage noch unübersichtlich. Die Zahlen, die von der haitianischen Zivilschutzbehörde veröffentlicht werden, sind vorläufige und eher zu tief angesetzte Grössen. Demnach sind am Samstag, 14. August, rund 2500 Menschen gestorben, über 12 000 wurden verletzt, mehr als 30 000 Häuser zerstört oder schwer beschädigt. Viele Dörfer rund um das Epizentrum im bergigen Südwestens des Landes sind durch Erdrutsche von der Aussenwelt abgeschnitten; kein Hilfstrupp kam bislang dorthin. Wie es in diesen Siedlungen aussieht, wissen nur die, die dort überlebt haben.
Unterhalb der sich in Ost-West-Richtung erstreckenden schmalen Tiburon-Halbinsel verläuft der Bruch zwischen der nordamerikanischen und der karibischen Platte. Wenn sich diese tektonischen Platten aneinander reiben, kommt es zu schweren Beben. Zuletzt war das am 12. Januar 2010 der Fall gewesen. Damals lag das Epizentrum rund hundert Kilometer weiter im Osten, die Erschütterungen trafen die Hauptstadt Port-au-Prince und deren dicht besiedelte Umgebung. Nach Regierungsangaben sind damals über 300 000 Menschen ums Leben gekommen. Beim Beben am 14. August wurde etwa doppelt so viel Energie freigesetzt wie 2010. Zudem zog am 16. und 17. August das tropische Unwetter Grace über das Katastrophengebiet. Schwere Regenfälle verursachten Erdrutsche und Überschwemmungen.
Kriminelle versprechen Hilfe
Dass es im Vergleich mit 2010 trotzdem sehr viel weniger Opfer gab, liegt vor allem daran, dass die Gegend rund um das Epizentrum ländlich geprägt ist. Mit Les Cayes (gut 70 000 EinwohnerInnen) und Jérémie (gut 30 000 EinwohnerInnen) gibt es dort nur zwei nennenswerte Städte. Im Vergleich dazu leben im Ballungsraum von Port-au-Prince mit seinen vielen an Hängen gelegenen Armenvierteln fast drei Millionen Menschen. Für die jetzigen Überlebenden ist das kein Trost. Denn Haiti ist, politisch gesehen, heute schlimmer dran als 2010.
Damals gab es eine verhältnismässig stabile Regierung, die freilich vom Ausmass der Katastrophe völlig überfordert war. Heute gibt es gar keine Regierung. Das Abgeordnetenhaus ist seit zwei Jahren verwaist, weil nach Ablauf der letzten Legislaturperiode keine Wahl stattfand. In der zweiten Kammer, dem Senat, sind aus demselben Grund nur noch zehn der dreissig Sitze besetzt. Und seit in der Nacht zum 7. Juli Präsident Jovenel Moïse ermordet wurde (siehe WOZ Nr. 28–30/2021 ), gibt es auch keinen Staatschef mehr. Die Geschäfte führt ein Premierminister ohne Legitimation: Ariel Henry, der von Moïse wenige Tage vor dessen Tod ernannt, aber nie vereidigt wurde. Der 71-jährige Neurochirurg ist politisch völlig unerfahren. Er sei eben deshalb von Moïse ausgesucht worden, heisst es in politischen Kreisen in Port-au-Prince. Der Präsident wollte eine schwache Figur an der Spitze seines Kabinetts, die seinem selbstherrlichen und autoritären Regierungsstil nicht im Weg stehen würde. Auch angesichts der aktuellen Katastrophe ist Henry schwach.
«Es fehlt an allem. An Wasser, an Essen, an Zelten», sagt der Menschenrechtsanwalt Patrick Pelissier, der in den vergangenen Tagen ins Katastrophengebiet gefahren ist. Von der Zivilschutzbehörde sei nichts zu sehen. Einzig ein paar internationale Entwicklungsagenturen und Hilfswerke würden – viel zu wenige – Lebensmittel verteilen. Immerhin sei die Nationalstrasse 2, die einzige Verbindung von Port-au-Prince nach Les Cayes, offen. Auf dieser Strasse aber fühle man sich «wie in einem dystopischen Film: Du siehst absolut niemanden, es ist wie im Krieg.» Pelissier führt dies auf Bandenkriege zurück, die dort in den vergangenen Monaten gewütet haben und vor denen viele geflohen sind. Nun traue niemand dem Waffenstillstand, den ein paar dieser Banden nach dem Erdbeben ausgerufen haben. Tatsächlich sind trotzdem ein paar Lastwagen mit Hilfsgütern überfallen und geplündert worden. Es ist aber unklar, ob die Täter kriminelle Banden waren oder einfach nur verzweifelte Erdbebenopfer.
Jimmy «Barbecue» Chérizier, der mächtigste Bandenführer von Port-au-Prince, hat gar eine Hilfsaktion angekündigt. Der ehemalige Polizist war als Krimineller ein enger Verbündeter des ermordeten Präsidenten und führt einen auf über tausend Mann geschätzten Verbund von Banden, der sich «G9» nennt. Auf die Erdbebenopfer Bezug nehmend, schrieb Chérizier auf Facebook: «Die revolutionären Kräfte der G9 und ihre Alliierten teilen ihren Schmerz und ihre Sorgen […] und werden Hilfe bringen.» Ganz im Griff hat aber auch er die Hauptstadt nicht. In der vergangenen Woche wurden zwei Ärzte, die sich in den völlig überfüllten Krankenhäusern um eingeflogene Schwerverletzte aus dem Erdbebengebiet kümmerten, von einer anderen Bande entführt. Der eine der beiden Entführten ist einer der wenigen orthopädischen ChirurgInnen des Landes, die man gerade jetzt dringend braucht.
Wahlkampf in der Katastrophe
Aber nicht nur Kriminelle nutzen die Katastrophe. Auch Politiker fluten das Erdbebengebiet und verteilen ein paar Reissäcke mit dem Logo ihrer Partei oder Wasserflaschen mit ihrem Konterfei. Auch Michel Martelly, Moïses Vorgänger im Präsidentenamt und dessen politischer Ziehvater, ist mit einem Kleinflugzeug nach Les Cayes gekommen. Seine Leibwächter verteilten Geldscheine an Erdbebenopfer. Offensichtlich hatte Martelly den Bedarf unterschätzt. Weil nicht alle auf seiner Route berücksichtigt werden konnten, kam es zu handgreiflichem Streit um die Zuwendungen. Mit ein paar Geldbündeln mehr hätte Martelly solche wüsten Szenen verhindern können. Es wäre für ihn kein Problem gewesen. Er und Moïse gelten als die korruptesten Präsidenten Haitis seit der Diktatur der Duvalier-Familie (1957–1986). Während Martellys Regierungszeit (2011–2016) wurde der grösste Teil der Hilfsgelder nach dem Erdbeben von 2010 nach Haiti überwiesen. Milliarden US-Dollar sind dort verschwunden. Nun will Martelly für eine zweite Amtszeit kandidieren. Sein Auftritt in Les Cayes war Wahlkampf.
Die Wahlen fürs Präsidentenamt und die beiden Kammern des Parlaments sollten eigentlich am 26. September stattfinden. Sie wurden schon vor dem Beben auf den 7. November verschoben, weil bislang nichts vorbereitet ist. Sehr wahrscheinlich wird auch dieser Termin verstreichen. Denn noch ist nicht klar, wie die Übergangszeit bis zu einer neu gewählten Regierung politisch überbrückt werden soll. In Port-au-Prince verhandeln PolitikerInnen, die Präsident Moïse nahestanden, seit dessen Ermordung mit der Opposition. Ein Mandat dafür hat niemand, aber die beiden Seiten kommen sich langsam näher.
Hilfe aus der Nachbarschaft
Zwei Optionen werden derzeit gehandelt: Henry fungiert weiterhin als Premierminister, erweitert aber sein Kabinett um Mitglieder der Opposition. Das entspräche in etwa einer Regierung der nationalen Einheit. Nur ist diese Lösung in der Verfassung nicht vorgesehen. Dort steht, das Parlament wähle in einem Fall wie dem nun eingetretenen einen Übergangspräsidenten – und das hat der Rumpfsenat auch getan. Er bestimmte seinen Präsidenten, Joseph Lambert, für diesen Posten. Der Sechzigjährige ist ein Berufspolitiker alten Schlags: einer, der mit allen reden und in Hinterzimmern Kompromisse aushandeln kann. Aber Henry wehrt sich gegen die verfassungsgemässe Lösung.
Je länger dieser Streit anhält, desto länger wird Haiti keine Regierung haben, die in der Lage wäre, Nothilfe im Katastrophengebiet zu leisten. Nach den Korruptionsskandalen um die internationalen Hilfsgelder nach dem Beben von 2010 wird dieses Mal deutlich weniger Geld ins Land fliessen. Aber schon damals wurden die meisten Überlebenden nicht von internationaler Hilfe, sondern von Grossfamilien und Nachbarschaftsverbänden aufgefangen. Das wird auch diesmal wieder so sein.