Literatur: Die mit der Sprache tanzt
Wer kann schon aus einem Fundus von Notizbüchern aus über fünfzig Jahren schöpfen? Gelagert in einem alten Reisekoffer, wo sie über die Jahre inkubieren, bevor sie ans Licht geholt und zum ersten Mal von der Autorin gelesen werden. «Damit aus Notizen Literatur werden kann, müssen sie nochmals durch mich hindurch», sagt Li Mollet.
Da wird in zahllosen Überarbeitungen an Sätzen, Rhythmus und Klang gefeilt. Beim Formulieren ist die Berner Autorin ganz Ohr. Deshalb heisst die Protagonistin ihres neuen Werks «weisse Linien» auch Josefine O. Mit tänzerischer Leichtigkeit – die Zeilen nur wenige Worte lang, kein Satzzeichen stört den Fluss – zeichnet Mollet einen Tag im Leben dieser Josefine O. nach. Unterbrochen wird ihre Spur über die Seiten hinweg durch quadratische Miniaturen in Blocksatz: Momentaufnahmen aus dem Leben von vier Menschen – einem «ich», einer «Frau mit leiser Stimme», einem «er» und dem «kleinen Mädchen». Es sind Beobachtungen, Gedankenfetzen und -spiele, ein seltsam zeitloses Flirren entsteht über die Miniaturen hinweg.
Wer in «weisse Linien» eintaucht, sich vom Rhythmus und Klang der Wörter und Sätze treiben lässt, gerät in einen schwebend-schwerelosen Sog rund um scheinbar Alltägliches. Doch was an der Oberfläche glitzert – Wortkreationen wie «zehenspitzenerprobt» oder «Fantasieverfinsterung» –, beginnt in der Tiefe sinnig zu funkeln. «Wir stecken in rauschendem Mitteilungslärm. Die Geschichten schwemmen durch unsere Köpfe. Sie wässern den Verstand, sagt er. Das stört nicht in jedem Fall, sagt die Frau mit leiser Stimme und lacht ein paar Töne. Er sucht ihren Blick. Sie schaut zu Boden. Wenn jemand geht, muss er eine Richtung einschlagen, sage ich, Umwege machen manches möglich.»
Li Mollets Werke sind Sprachkunst im Wortsinn und gehen doch weit darüber hinaus, öffnen auch mit grafischen und orthografischen Experimenten Möglichkeitsräume, besonders in «und jemand winkt» (2019). Das ist oft überraschend, mitunter lustig, und es eröffnet immer wieder neue Erkenntnisse über unsere sprachliche Wahrnehmung der Welt.
Li Mollet: weisse Linien. Ritter Verlag. Klagenfurt 2021. 94 Seiten. 19 Franken