Afghanischer Alltag: Die Versöhnung der Buchhändler
Vor dem Nato-Truppenabzug leben die Menschen in Kabul zwischen Angst, Pragmatismus und einer leisen Hoffnung auf Frieden.
Schams al-Haqq sitzt auf einem blauen Plastikstuhl. Die meisten Bücher, die vor ihm liegen oder in seinem Regal stehen, sind politische Biografien. Neben den Übersetzungen von Che Guevaras Tagebüchern und Hitlers «Mein Kampf» erkennt man Buchdeckel mit den Antlitzen jener Männer, die Afghanistan in den letzten Jahrzehnten geprägt haben: Mohammed Daoud Khan, der erste und letzte Präsident der afghanischen Republik in den siebziger Jahren; der vor allem von Frankreich geliebte Mudschaheddin-Führer Ahmad Schah Massud, nach dem vor kurzem feierlich eine Strasse in Paris benannt wurde; oder Mohammed Nadschibullah, der letzte von den Sowjets unterstützte kommunistische Diktator, der 1996 von den Taliban in brutaler Art und Weise hingerichtet wurde. «Sie alle haben dazu beigetragen, unser Land zu zerstören», sagt Schams al-Haqq.
Er und sein Nachbar Hadschi Scherasuddin verkaufen seit rund 25 Jahren Bücher nahe dem Grossen Basar im Herzen Kabuls. Gemeinsam haben die beiden älteren Männer Niedergang und Aufstieg verschiedener Regimes erlebt – und sind sich auch als Feinde gegenübergestanden. Während Schams al-Haqq in den achtziger Jahren für den militärischen Aufklärungsdienst des kommunistischen Regimes tätig war, kämpfte Hadschi Scherasuddin aufseiten der Mudschaheddin-Rebellen. «Ich war in der Fraktion von Mohammad Nabi Mohammadi», sagt er, während er einen Kunden – meist sind es Schülerinnen oder Studenten – bedient.
Der charismatische Nabi Mohammadi gehörte während der sowjetischen Besatzung zu den bekanntesten Mudschaheddin-Führern. Er erklärte den Sowjets und deren Marionettenregierung in Kabul den «Heiligen Krieg» und meinte, dass es die Aufgabe eines jeden frommen Afghanen sei, daran teilzunehmen. Der Dschihad genoss breite Unterstützung in der Bevölkerung, was nicht zuletzt mit der Brutalität des Regimes zu tun hatte. Für die AfghanInnen war der Kalte Krieg ein blutiger. Rund zwei Millionen Menschen wurden innerhalb von zehn Jahren getötet.
Bis heute geniesst der 2002 verstorbene Nabi Mohammadi Heldenstatus, auch unter den Taliban. Die entstanden zwar erst Mitte der neunziger Jahre, doch nicht wenige von ihnen hatten als junge Männer die Kommunisten bekämpft. «Ich weiss nicht, ob man ihren heutigen Kampf als Dschihad bezeichnen kann. Es ist jedenfalls nicht dasselbe wie damals. Heute kämpfen ja hauptsächlich Afghanen gegen Afghanen», sagt Hadschi Scherasuddin nach längerem Überlegen. Den geplanten Abzug der US-Truppen unterstützt er allerdings.
Vor wenigen Tagen verkündete US-Präsident Joe Biden, seine verbliebenen 3500 SoldatInnen bis zum 11. September dieses Jahres abziehen zu wollen. Auch die anderen Nato-Staaten bereiten ihren Rückzug vor. Zwei Jahrzehnte nach Beginn des «War on Terror» wollen die USA ihren «längsten Krieg» beenden. Hadschi Scherasuddin betrachtet den Abzug etwas pragmatischer als Schams al-Haqq: «Machen wir uns nichts vor: Wir haben Probleme, ob mit oder ohne sie.»
Gelangweilte Soldaten
So unterschiedlich die Reaktionen auf den Einmarsch Ende 2001 waren, so verschieden sind sie heute: «Wir können uns nicht ewig auf sie verlassen», meint der Soldat Tamim, der seinen Nachnamen nicht nennen will, während er im Stadtteil Daschte Bardschi ein Sportevent bewacht. Mehrere Dutzend Menschen haben sich versammelt, um die Veranstaltung für Menschen mit Behinderung zu verfolgen. Die meisten Anwesenden sind Angehörige der schiitischen Hasara-Minderheit, die in diesem Viertel in der Mehrheit sind. Hier wurden sie auch zum Ziel von Anschlägen. Vor rund einem Jahr griffen IS-Terroristen eine Geburtsklinik an und töteten mindestens 24 Menschen. 2016 wurden bei einem Angriff auf eine Bildungseinrichtung über 30 Menschen getötet. Diese und weitere Massaker haben sich ins Gedächtnis der Menschen eingebrannt.
Für den Sportevent wurden dennoch kaum Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Jeweils ein Polizei- und ein Armeejeep sind präsent. Die dazugehörigen Soldaten wirken gelangweilt und desinteressiert. «Sei mal froh, dass wir überhaupt da sind», sagt Tamim, während er mit seinem Gewehr spielt. Tamim behauptet, dass er und seine Kollegen gar nicht für Daschte Bardschi und die Veranstaltung zuständig seien. Man sei eben da, aber echte Sicherheit könne man auch nicht garantieren. «Tja, das ist der Zustand unserer Armee», sagt er etwas geknickt. Doch dann wird er ernster. Sobald sein Sold wegfallen sollte, würde er sich irgendeiner Miliz anschliessen: «Ich bin für den Krieg gewappnet.»
Aufgrund der schon seit längerem schlechten Sicherheitslage bereiten andere ihre Flucht vor. «Wir werden wohl bald gehen», sagt Hakim Singh, ein Sikh, der sein Geschäft im Stadtteil Karte Parwan führt. Der Exodus der letzten Sikhs Afghanistans hängt nicht direkt mit dem Truppenabzug zusammen, sondern mit den zunehmenden Angriffen auf ihre Gemeinschaft.
Im März 2020 wurde ein Sikhtempel in Kabul von der afghanischen IS-Zelle angegriffen, 25 Menschen wurden getötet. Niemand sorgte für den Schutz des Tempels, stattdessen inszenierten sich Regierungsvertreter nach dem Anschlag mit rührseligen Besuchen bei den Trauernden. Singh und seine Familie wollen nach Kanada oder nach Indien. In beiden Ländern erwarten sie Verwandte.
Die afghanische Regierung von Präsident Aschraf Ghani scheint wenig Verständnis für die Sorgen der BürgerInnen zu haben. «Wer Angst hat, soll das Land verlassen. Wir bleiben hier», meinte Ghani bei einer Rede am Wochenende. Aus der Sicht vieler AfghanInnen hat er leicht reden: Seine eigenen Kinder leben in den USA. Im Falle einer Machtübernahme durch die Taliban würde er mitsamt seiner Gefolgschaft – hauptsächlich AfghanInnen mit westlichen Pässen – im ersten Flieger das Land verlassen. Der Präsident sorgte bereits vor einigen Jahren für Irritationen, als er behauptete, aus Afghanistan Geflüchtete hätten den «Gesellschaftsvertrag» gebrochen. Zeitgleich segnete seine Regierung ein Abschiebeabkommen mit der EU ab, das vor kurzem erneuert wurde.
Kommen die Taliban zurück?
Der Abzug der US-Truppen ist für viele AfghanInnen ein Déjà-vu: 1989 verliessen die letzten sowjetischen Truppen nach zehnjähriger Besetzung das Land. Das letzte kommunistische Regime in Kabul konnte sich dank finanzieller und logistischer Unterstützung aus Moskau drei weitere Jahre halten. Nachdem der Geldhahn zugedreht worden war, nahmen die Mudschaheddin die Stadt ein. Ein blutiger Bürgerkrieg brach aus, Tausende AfghanInnen verloren ihr Leben. Dann kamen die Taliban an die Macht.
«Es wird wie damals. Hier wird das Chaos ausbrechen – und am Ende kommen sie wieder mit ihren schwarzen Turbanen und bringen Ordnung rein», prophezeit Mohammad Saleh, ein Taxifahrer. Er sei kein Taliban-Sympathisant. Allerdings wisse er, dass viele in Kabul nach «brutaler Sicherheit» lechzen würden. «Hier wird man für ein Handy und etwas Kleingeld getötet. Die Regierung hat die Kontrolle verloren, da muss das eben jemand anderes übernehmen», sagt Saleh.
«In all den Jahren konnten die US-Truppen nichts ausrichten. Ich denke nicht, dass ihr Abzug eine grosse Veränderung bringen wird», meint hingegen Arso Rahimi, eine Studentin aus Kabul. Szenarien einer baldigen Rückkehr der Taliban in die Hauptstadt hält sie für übertrieben. Man müsse sich nun auf wirtschaftliche Hilfe und regionale Zusammenarbeit konzentrieren. «Die Amerikaner haben hier ein Chaos hinterlassen», resümiert sie.
Viele Eindrücke aus Kabul unterscheiden sich fundamental vom Alltag in anderen Landesteilen. Vor allem in den ländlichen Regionen haben die Taliban schon seit langem wieder das Sagen. Auch in manchen Kabuler Vororten sind sie bereits präsent. Umso besorgter zeigen sich viele Frauen, die ein urbanes Leben führen, studieren oder berufstätig sind. «Der Abzug der ausländischen Truppen ist eine Steilvorlage für die Taliban. Sie haben nur darauf gewartet. Ich fürchte mich vor ihrer Rückkehr. Sie betrachten Frauen nicht als Menschen», sagt Marwa Haschemi, eine Ärztin aus Kabul.
Umso wichtiger sind für viele AfghanInnen die Friedensgespräche mit den Taliban, die gegenwärtig wieder einmal auf Eis liegen. Versöhnung, Respekt und die Anerkennung von gegenseitigem Leid seien notwendig. Die Buchhändler Schams al-Haqq und Hadschi Scherasuddin sind dafür ein gutes Beispiel: «Wir waren einst quasi Erzfeinde, doch heute könnte ich mir keinen Arbeitstag ohne meinen Freund nebenan vorstellen», sagt Schams al-Haqq.