«Summer of Soul»: Eine Boheme für alle

Nr. 31 –

In der Geschichte der Popkultur klaffte bis jetzt eine erstaunliche Lücke: Es fehlte das Harlem Cultural Festival, das 1969 die dringlichste Schwarze Musik der Zeit auf die Bühne brachte. Ein Dokumentarfilm fängt dieses politisch aufgeladene Spektakel nun eindrücklich ein.

Charlayne Hunter-Gault wurde 1961 als erste Afroamerikanerin an der University of Georgia zugelassen, um Journalismus zu studieren. Die rassistische Reaktion war heftig. Kurz nach ihrer Ankunft attackierte ein gewalttätiger Mob ihr Wohnheim, nachts wechselten sich die weissen Studentinnen im Stockwerk über ihr ab, um ihr mit Fussgetrampel den Schlaf zu rauben. Sie legte dann einfach eine Platte von Nina Simone auf, um ihre Ruhe zu finden. Ein paar Jahre später stand sie, nun Reporterin bei der «New York Times», mit Zehntausenden in einem Park mitten in Harlem und erlebte mit, wie Nina Simone die Schwarze Jugend in einem Gospelsong zur Avantgarde erkor: «Die Welt wartet auf euch, ihr seid auf einer Mission, die gerade erst begonnen hat.»

Viel mehr als «Black Woodstock»

Festgehalten sind die Erinnerungen von Charlayne Hunter-Gault in «Summer of Soul», einem neuen Dokumentarfilm über das Harlem Cultural Festival, das im ereignisreichen Sommer 1969 im New Yorker Mount Morris Park stattfand. An sechs aufeinanderfolgenden Wochenenden strömten insgesamt 300 000 Menschen, fast ausschliesslich Schwarze, zu den kostenlosen Konzerten einiger der damals grössten MusikerInnen des Soul, R ’n’ B, Gospel, Blues und Jazz. Der Film fängt diesen historischen Moment ein, in dem Kultur und politischer Protest sich in einer selten gesehenen Intensität verdichteten – einen Moment der kollektiven Ermächtigung und Ekstase.

Dass dieser Film erst jetzt erscheint, zeugt von einer nahezu unglaublichen historischen Missachtung und Verdrängung. «Summer of Soul» basiert auf den historischen Konzertmitschnitten des 2017 verstorbenen Hal Tulchin, die fünfzig Jahre lang unbeachtet in einem Keller lagen – es interessierte sich schlicht niemand dafür. In den Jahren nach dem Festival hatte Tulchin noch versucht, sein vierzig Stunden umfassendes Material unter dem Label «Black Woodstock» an Produktionsfirmen zu verkaufen – angelehnt an das weltberühmte Hippiefestival, das im gleichen Sommer auf einer Wiese hundert Kilometer nordöstlich der Metropole New York stattfand. Doch die Analogie zum längst zum Mythos gemachten Woodstock führt auf falsche Fährten: Die kulturellen Erschütterungen und gesellschaftlichen Kämpfe, die auf der Bühne des Harlem Cultural Festival sicht- und hörbar wurden, waren ganz andere.

Ahmir Thompson alias Questlove, Schlagzeuger der Hip-Hop-Band The Roots, hat die Aufnahmen von Tulchin nun aus dem Archiv geholt und in seinem Regiedebüt mit aktuellen Interviews mit ZeitzeugInnen, die damals vor oder auf der Bühne standen, sowie mit historischem Kontext angereichert. Wie Questlove in «Summer of Soul» die Dringlichkeit der Szenen auf der Bühne mit persönlichen Anekdoten, den Umbrüchen in der Bürgerrechtsbewegung und im Schwarzen Selbstverständnis, aber auch mit musikhistorischen Exkursen verbindet, ist eine Wucht; und trotz der Dichte an Informationen und Bildern ist das alles in einem Fluss erzählt. Mehr kann ein Konzertfilm eigentlich nicht leisten.

Erträumte Kollektive

Es war 1969 auch Charlayne Hunter-Gault, die in einem Artikel in der «New York Times» erstmals das Wort «black» statt dem bis dahin gebräuchlichen N-Wort verwendete. Nachdem ein weisser Redaktor die Änderung rückgängig gemacht hatte, schrieb die wütende Reporterin eine elfseitige Stellungnahme und setzte sich durch: Von da an schrieb die Zeitung nur noch «black». 1969 bedeutete für die Schwarze Bevölkerung Aufbruch – aber auch Elend und Gewalt. In Harlem wütete eine «Heroinepidemie», und nach der Ermordung von Martin Luther King und den anschliessenden Strassenschlachten und Plünderungen ein Jahr zuvor war die Lage im mehrheitlich Schwarzen Stadtteil angespannt. Derweil interessierte sich das weisse Amerika vor allem für den Mond, wo gerade zwei weisse Männer gelandet waren. «Scheiss auf die Mondlandung», sagte ein junger Festivalbesucher in eine Fernsehkamera, «bringt dieses Geld doch nach Harlem!»

Am eindrücklichsten treten die politischen Ereignisse auf die Festivalbühne, als der Pastor und Aktivist Jesse Jackson, der bei Kings Ermordung zugegen war, dessen Lieblingslied «Lord Search My Heart» ankündigt. Dann geben sich Mahalia Jackson und die junge Mavis Staples mit ansteigender, schmerzverzerrter Intensität diesem Lied hin, bis dieses in ihren eruptiven Schreien richtiggehend explodiert. «Spirit possession», Geistbesessenheit, nennt der Autor und Musiker Greg Tate das: der Gospel als kathartische Erfahrung und essenzieller Ausdruck der afroamerikanischen Community. «Wir gingen nicht zum Psychiater», sagt einer der Zeitzeugen, «aber wir hatten Mahalia Jackson.»

So stark sich der stilistische und kulturelle Hintergrund der MusikerInnen unterscheidet, so eindrücklich gleichen sich viele der Auftritte in ihrem Begehren nach ritueller Entrückung. Auch der 19-jährige Stevie Wonder wirkt wie besessen, als er während eines ausgedehnten Solos auf dem Clavinet die Kontrolle an seine tänzelnden Finger abzugeben scheint. Oder die triumphalen fünfstimmigen Gesänge der Popgruppe The 5th Dimension in «Aquarius/Let the Sunshine in», 1969 ein grosser Hit. Oder der schillernde Sly Stone, der hinter seinem Keyboard lauert, während seine Band The Family Stone auf die Bühne schlendert, und ein paar Fingerübungen klimpert, bevor sein markiger Schrei wie ein Stromstoss durch die Band fährt und den schweren Funkbeat auf volle Lautstärke drückt.

Die Dringlichkeit dieser Musik zu diesem Zeitpunkt, die Questlove herausarbeitet, lässt sich vielleicht am besten mit einem Begriff fassen, den der 2017 verstorbene Kulturtheoretiker Mark Fisher in seinem letzten, unvollendeten Text noch im Ansatz dargelegt hat: «acid communism». Fisher beschreibt die bewusstseinserweiternde Dimension in manchen Werken der Gegenkultur der sechziger Jahre, ein Erträumen von neuen Kollektiven, die über die soziale Realität der Gegenwart hinausgehen. «Eine neue Menschheit, ein neues Sehen, ein neues Denken, ein neues Lieben: Das ist das Versprechen von ‹acid communism›.»

Den Soul psychedelisiert

Fisher spielt das an einigen Musikbeispielen aus den Sechzigern lose durch, unter anderem auch an Sly and the Family Stone. Im Vergleich zu dieser Band wirkt vieles, was in Harlem gespielt wurde, musikalisch traditionell; die ambitionierten Werke von Stevie Wonder etwa, bei denen dieser auch als Komponist in Erscheinung trat, sollten erst noch kommen. Sly and the Family Stone war die einzige Band, die nicht nur am Harlem Cultural Festival, sondern auch in Woodstock spielte – an beiden Orten eine erschütternde Erscheinung, eine kleine Utopie für sich: Schwarze und Weisse, Frauen und Männer, ständig changierende Gesangsstimmen und komplex verzahnte Instrumente. Die Band hatte den Funk geprägt und den Soul psychedelisiert. Und dann dieser Sly Stone: musikalisch gebildet in der Kirche, am Konservatorium und als DJ, politikaffin und modisch extravagant. Greg Tate nennt ihn einen «Proto-Prince».

«Die spielerische Freiheit und der Wagemut, die Sly and the Family Stone verkörperten», schreibt Mark Fisher, «sie hätten von einer Avantgarde stammen können.» Doch die Band habe sich nicht auf eine Elite beschränken wollen, beharrlich hätten ihre Auftritte die Frage aufgeworfen: «Warum sollte diese Boheme nicht allen offenstehen?» In Harlem brauchte die Band nur die Bühne zu betreten, und die Menge war elektrisiert. Man breche das Konzert ab, wenn das Publikum sich nicht beruhige, mahnte der Moderator.

Immer wieder werden im Film utopische Kollektive beschworen, am schönsten in der Dissonanz zwischen Sly Stones Ausruf «I want to take you higher» und der zwar weiten, aber doch irgendwie belanglosen Distanz zum Mond. In einer Fernsehaufnahme kommentierte damals einer: «Der Flug zum Mond zeigt, dass Amerika keine Seele hat.» Ein paar Jahre bevor der reichste Mann der Welt sich kürzlich in seiner Rakete ins All schiessen liess, rappten A Tribe Called Quest auf ihrem phänomenalen letzten Album «We Got It from Here … Thank You 4 Your Service»: «There ain’t a space program for niggas.» «Summer of Soul» kommt sehr spät, aber die Seele, um die da im Sommer 1969 gekämpft wurde, bleibt auch für die Gegenwart ein Versprechen.

«Summer of Soul (… Or, When the Revolution Could Not Be Televised)». Regie: Questlove. USA 2021. Stream auf Disney+.