FDP-Präsidium: Kulturkämpfer auf dem Vormarsch
Nach dem Rücktritt von Parteipräsidentin Petra Gössi ringt die Krisenpartei FDP um eine Linie. Übernimmt nun die laute liberal-konservative Minderheit?
Noch bis am 15. August haben AnwärterInnen auf das FDP-Präsidium Zeit, ihre Kandidatur anzumelden. Am 2. Oktober werden die FDP-Delegierten über die Nachfolge der zurücktretenden Petra Gössi befinden. Namen sind einige gefallen, viele wollen sich den Verschleissjob nicht antun. Als heisse AnwärterInnen gelten seit längerem die Waadtländer Nationalrätin Jacqueline de Quattro und der Aargauer Ständerat Thierry Burkart sowie neuerdings der junge Luzerner Ständerat Damian Müller. Den beiden Männern werden Kontakte zur Findungskommission nachgesagt. Eine Kandidatur bekannt gegeben hat als bislang Einziger der St. Galler Nationalrat und Unternehmer Marcel Dobler. Er gilt als chancenlos. Die St. Galler Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher hat soeben ihren Verzicht bekannt gegeben.
Nach Gössis Rücktritt sucht die Partei den Neuanfang: Die FDP steckt in der Krise. Sie sackte bei den nationalen Wahlen von 2019 von 16,4 auf 15 Prozent WählerInnenstimmen ab. Und in den Kantonen hat seither keine andere Partei so viele Parlamentsmandate eingebüsst. Auf nationaler Ebene machte die FDP jüngst bei den zentralen Themen Klimaschutz und Rahmenabkommen einen desolaten Eindruck: Die Partei war so uneins wie keine zweite; Petra Gössi hatte mit lautstarken AbweichlerInnen zu kämpfen, die in den (sozialen) Medien ohne Rücksicht auf Verluste gegen die Parteileitung ins Feld zogen.
«Ohne modische Schlagworte»
Seit das nationale Parlament vor zwei Jahren progressiver und weiblicher wurde, nimmt der Gegendruck der liberal-konservativen KulturkämpferInnen zu. In den Feuilletons und Kommentarspalten der NZZ oder des «Nebelspalters» werden in einer einfallslosen Dauerkampagne linke Forderungen nach einer egalitären Gesellschaft als «identitätspolitische» Verirrung verunglimpft. Dieselben Blätter fordern nun, die FDP müsse zum «wahren Liberalismus» zurückfinden. NZZ-Chefredaktor Eric Gujer etwa meint damit «die wirtschaftsliberalen Wurzeln» der Partei, «ohne modische Schlagworte von Diversität bis Urbanität».
Auch im Bundeshaus ist derzeit der liberal-konservative Flügel der Partei, der Marktradikalität mit einem konservativen Schweizbild der wehrhaften Unabhängigkeit verbindet, am lautesten. Nach der verlorenen Abstimmung über das CO2-Gesetz lautet die Diagnose dieser Fraktion: Gössi sei mit ihrem «Klimakurs» fundamental gescheitert, nun müsse der rechte Flügel übernehmen. Neben dem Aargauer Thierry Burkart, der nicht mit der WOZ sprechen wollte, kann auch der St. Galler Marcel Dobler dem rechten FDP-Spektrum zugeordnet werden. Digitec-Gründer Dobler, der sowohl gegen das CO2-Gesetz als auch gegen das Rahmenabkommen kämpfte, kann sich «aus Zeitgründen» nur eine Kopräsidentschaft vorstellen. Am Telefon sagt Marcel Dobler: Die FDP müsse nun nach aussen wieder geeinter auftreten «und nicht Themen bewirtschaften, in denen die Basis gespalten ist».
Flügelkämpfe sind bei der FDP nicht neu. Doch in einer zunehmend fragmentierten Parteienlandschaft sind Parteien mit einem klaren Profil im Vorteil. Die Diagnose, dass die FDP inzwischen zu klein sei, um ihre Widersprüche auszuhalten, war schon oft zu lesen. Doch dürfte es nicht so leicht gelingen, die Partei auf einen libertären Kurs zu trimmen. Susanne Vincenz-Stauffacher sagt: «Ich bin auch für eine Rückbesinnung auf liberale Werte», doch begreife sie «Liberalität» nicht einfach als das neoliberale Recht des Stärkeren. Dem, der auf dem Boden liege und aus eigener Kraft nicht aufstehen könne, zu sagen, er müsse selber wieder auf die Beine kommen, sei zynisch. Liberalismus bedeute, die Eigenverantwortung hochzuhalten, aber auch Verantwortung zu übernehmen für die, die dazu nicht in der Lage seien. Ähnlich halte sie es mit dem Freiheitsbegriff, sagt die Nationalrätin. «Die eigene Freiheit muss dort begrenzt werden, wo sie die Freiheit eines anderen tangiert.» Das gelte gerade in der Klimafrage, «von der die nächste Generation stark betroffen sein wird». Vincenz-Stauffacher sagt weiter: Der libertäre Flügel vertrete jedoch nicht die Mehrheitsmeinung in der Partei. «Ich fühle mich mit meiner Haltung in der Fraktion sehr gut aufgehoben.»
Auch die europhile Zürcher Nationalrätin Doris Fiala sagt, sie habe das Gefühl, den wahren Liberalismus zu vertreten: «Ich bin liberal. Und eben nicht libertär.» Der Slogan der FDP laute schliesslich «Freiheit und Verantwortung»: «Wir müssen auch die Begrifflichkeit der Verantwortung mit Inhalt füllen.»
Fiala beobachtet in der Partei ein massives Disziplinarproblem. Es gebe zu viele Querschläger. Petra Gössi habe sich in ihrem Amt aufgeopfert, «ihr mache ich keinen Vorwurf». Doch habe sie wohl zu sehr auf Goodwill und Solidarität gehofft. Das habe nicht funktioniert. Nun brauche es eine starke Persönlichkeit, die den AbweichlerInnen in der Fraktion auch mal auf die Finger klopfe.
Fiala verlangt, dass die FDP Lehren zieht aus der CO2-Abstimmung und dem Debakel ums Rahmenabkommen, das der Bundesrat auch mit der Zustimmung vieler FDP-ExponentInnen beerdigt hat. Die FDP habe ihren Bundesrat Ignazio Cassis alleingelassen, sagt Fiala. Künftig müsse man die Geschäfte in A-, B- und C-Geschäfte einteilen, die A-Geschäfte für strategisch erklären «und so die Fraktionsmitglieder verpflichten, sich nicht entgegen einer Parolenfassung oder einem Fraktionsbeschluss zu äussern».
Ungemütliche Aussichten
Doch mit mehr Disziplin allein wird die FDP nicht aus der Krise finden. Das grösste Problem des Freisinns zurzeit: Es gelingt ihm kaum noch, eine liberale Kernbotschaft zu formulieren.
Am Ende bleibt die Frage, wie sehr einE ParteipräsidentIn die FDP überhaupt prägen kann. Ob mit Jacqueline de Quattro jemand aus dem Parteimainstream übernehmen wird oder einer der Flügel: Deren ExponentInnen werden sich auch künftig nicht so leicht ruhigstellen lassen. Kommt dazu, dass die Beschlüsse der Parteibasis und die der Fraktion weit auseinanderklaffen. Gehen die Grabenkämpfe in der Partei weiter, wird sich die Krise der FDP zuspitzen. Die Aussichten sind eher ungemütlich: Einst war der staatstragende «Freisinn» so etwas wie das schweizerische Lebensgefühl; inzwischen muss sich die FDP fragen, wie sie den ganz grossen Niedergang aufhalten kann. Oder ob sich die Freisinnigen, die einst die Schweizer Politik wie keine andere Partei prägten und noch Mitte der neunziger Jahre einen WählerInnenanteil von über 20 Prozent vorzuweisen hatten, in jenen Bereichen einpendeln, wo sich die meisten liberalen Parteien Europas befinden – bei einem Wähleranteil von plus/minus 10 Prozent.