Reaktionärer Freisinn: Vorwärts nach hinten

Nr. 10 –

Aufrüstungsrhetorik, pro Atomkraft, Abkehr von der «grünen» Wende: Die FDP unter ihrem neuen Präsidenten Thierry Burkart ist programmatisch auf dem Weg zurück in die Vergangenheit.

Auf Stimmenfang beim rechten Publikum: Thierry Burkart, damals noch nicht FDP-Präsident, an einer Pressekonferenz zur Kampfjetbeschaffung im August 2020. Foto: Peter Schneider, Keystone

Eine Woche nach dem Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine ringt Priska Seiler Graf um Worte. Kommunikativ sei es gerade schwierig, sagt die SP-Sicherheitspolitikerin im Vorzimmer des Nationalrats. «Der Krieg weckt Ängste, Urinstinkte.» Wenn in Europa die Panzer rollen, ein russischer Diktator mit dem Einsatz von Atomwaffen droht: Wie lässt es sich da für Abrüstung argumentieren? Für Pazifismus?

Die FDP hatte nicht gezaudert. Noch vor der russischen Invasion verschickte sie ein erstes Communiqué mit der Forderung nach Aufrüstung. Gemeinsam mit der SVP fordern die Freisinnigen seither ohne Unterlass, die Politik müsse das Armeebudget erhöhen und den F-35 dringend beschaffen. Auf die Sozialdemokrat:innen, die den Kampfjetkauf zusammen mit den Grünen und der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) bekämpfen, machte die Partei starken Druck, ihre Initiative zurückzuziehen (vgl. «Gegen die Kriegstrommler» ).

Militärkopf Burkart

Die Rüstungsfrage steht exemplarisch dafür, dass die progressive Schweiz unter Beschuss steht. An vorderster Front im Einsatz: FDP-Präsident Thierry Burkart.

Der 46-jährige Aargauer Ständerat trat sein Amt im Herbst 2021 mit dem Versprechen an, «das liberale Feuer zu entfachen» und bis zu den Wahlen 2023 «weiterzutragen». Will die FDP ihren zweiten Bundesratssitz verteidigen, darf sie bei den nächsten Parlamentswahlen auf keinen Fall weiter verlieren. Nichts sagt wohl mehr über das politische Naturell Burkarts aus als die oft kolportierte Erzählung über seine Politisierung mit vierzehn Jahren: Burkart bewegte damals die GSoA-Initiative zur Abschaffung des Militärs – mit ein paar Schulkollegen verteilte er in seinem Heimatdorf Obersiggenthal Pro-Armee-Flyer.

Bis heute steht Burkart auf der Seite der Betonschweiz, der Besitzstandswahrer, der Kalten Krieger. Er steht der im letzten Sommer gegründeten Pro-Militär-Gruppe «Allianz Sicherheit Schweiz» vor (gegründet explizit als Gegenpol zur GSoA). Ein weiterer Schwerpunkt seiner Politik ist die Verkehrspolitik – Autos und Strassen. Burkart, Präsident des Schweizerischen Nutzfahrzeugverbands Astag, will einen schnelleren Autobahnausbau auf sechs Spuren und hat im Parlament das «Rechtsvorbeifahren auf Autobahnen und Autostrassen» durchgebracht. In der Klimapolitik kämpft Burkart gegen strengere Vorschriften und Abgaben.

Spricht er beim Thema Aussenpolitik von «Weltoffenheit und Souveränität», meint er, der dementsprechend auch das Rahmenabkommen mit der EU bekämpft hat, Freihandel ohne solidarische Verpflichtungen. Etwas konzilianter gibt sich der FDP-Präsident mittlerweile lediglich in Sozialversicherungsfragen.

Die Strategie, die Burkart für die kommenden Wahlen fährt, ist klar: Er geht rechts von der FDP auf Stimmenfang und will gleichzeitig bei den grossen Reformthemen die Diskurshoheit zurückgewinnen. Offenbar wurde das in den vergangenen Wochen in erster Linie bei der Klimapolitik. Die Schweiz soll nach dem Nein zum CO2-Gesetz nicht mehr über drohende Klimakipppunkte reden, sondern über die «Stromlücke».

Wieder AKW-Partei

Unter dem Motto «Mehr Strom, weniger Polemik» lancierte die Partei unter Burkarts Führung eine Debatte über den Bau neuer Atomkraftwerke, die tagelang die bürgerlichen Medien dominierte. Die Delegierten stimmten an der Versammlung vom 12. Februar der sperrigen Formulierung zu, es seien «rechtliche Voraussetzungen zu schaffen, damit langfristig und bei Bedarf auch eine neue Generation der Kernkraft-Technologie ihren Beitrag an die Versorgungssicherheit leisten könnte, sofern die Sicherheit jederzeit gewährleistet werden kann».

Übersetzt: Die FDP ist gut zehn Jahre nach dem durch den Bundesrat beschlossenen Ausstieg aus der Kernkraft wieder Atompartei. Den Politologen und FDP-Kenner Claude Longchamp wundert das nicht. Ein grosser Teil der Parteibasis könne damit sicher gut leben, sagt er gegenüber der WOZ. «Die Kernkraft ist tief in die DNA der Freisinnigen eingebunden.» Die Erzählung, dass die FDP erst unter Burkart nach rechts rücke, sei ohnehin falsch. «Das passierte schon früher – in der Fraktion.»

In Bezug auf die FDP produzierten die Medien in den letzten Jahren ein fatales Missverständnis: dass Burkarts Vorgängerin Petra Gössi eine Linke sei. Zumindest eine Linksfreisinnige. Tatsächlich wurde Gössi 2016 als stramme Vertreterin des Wirtschaftsfreisinns gewählt. Sie sollte die Partei nach den Parlamentswahlen rechts der Mitte konsolidieren. Longchamp sagt: «Die SVP hatte wieder massiv gewonnen, bei der FDP war man frustriert.» 2017 bekämpften SVP und FDP erfolgreich Alain Bersets Rentenreformprojekt «Altersvorsorge 2020». Auf diesen Zeitpunkt datiert Longchamp die definitive Abkehr der FDP von ihrer Rolle als staatstragende Kompromisspartei.

Was Gössi und ihre Parteikolleg:innen allerdings nicht voraussahen, waren die Klimabewegung und die darauffolgende grüne Welle bei den Wahlen 2019. Gegen die grüne Wende, die die pragmatische Gössi damals in der FDP einleitete, gab es parteiintern schon immer Widerstand von der Betonfraktion – zu der neben Thierry Burkart etwa auch Leute wie der Berner Nationalrat Christian Wasserfallen, der St. Galler Nationalrat Marcel Dobler oder der Luzerner Atomlobbyist Peter Schilliger zählen.

Zum Kipppunkt wurde schliesslich das unerwartete Nein der Bevölkerung zum CO2-Gesetz im letzten Juni. Innerhalb der FDP setzte sich nun definitiv der rechte Flügel durch.

Es ist keine drei Jahre her, da weckte der grüne Wahlsieg Hoffnungen auf linksprogressive Allianzen und Durchbrüche, in der Klimafrage, bei Gleichstellungsthemen oder Fragen der Umverteilung. Inzwischen herrscht Katzenjammer. Priska Seiler Graf sagt: «Die Abstimmung über das CO2-Gesetz war eine Zeitenwende. Seither ist es schwierig, mit den Bürgerlichen Kompromisse zu schmieden. Und bei der FDP finden sich nur noch wenige vernünftige Vertreter:innen.»

Erfreuliche Protestbewegung

Ob sich der Kurs der FDP für die Partei bezahlt macht, ist dennoch fraglich. Zwar haben die Freisinnigen kürzlich in Neuenburg, wo die Partei traditionell stark ist, zugelegt. In der Stadt Zürich konnte sie sich jedoch lediglich stabilisieren. Thierry Burkarts Kurs strahlt stärker auf die Deutschschweiz als auf die Westschweiz aus. Dort sind die etwas progressiveren «Radicaux» in den Parlamenten und Regierungen ohnehin fest verankert. Derzeit dürften die Freisinnigen hier vor allem ein paar Stimmen auf Kosten der SVP holen, die sich während der Coronakrise weiter radikalisiert hat – ein Wachstumsspektrum, das begrenzt ist. Links-Grün legt derweil in den Kantonen weiter zu. Der Politologe Werner Seitz hat ausgerechnet: «Auch wenn die grünen Gewinne oft auf Kosten der Linken gehen, hat das linke Lager unter dem Strich bislang in allen Kantonen ausser Neuenburg gewonnen.»

Die FDP appelliert mit ihrer Aufrüstungsrhetorik an die nachvollziehbare Angst der Bevölkerung vor der Nuklearmacht Russland. Burkart hat damit das Momentum auf seiner Seite. Gleichzeitig formiert sich derzeit in der ganzen Schweiz eine massive und erfreulich politische Protestbewegung. Viele der Demonstrant:innen fordern von der Schweiz, die weiter russische Oligarchen hofiert und über die achtzig Prozent des russischen Rohstoffhandels abgewickelt werden, eine Abkehr von ihren nationalistischen Egoismen. Die Linke muss diese Proteste auffangen und die Simplifizierungen von rechts entlarven: Die Welt wird nicht durch Waffen sicherer, sondern nur durch mehr Rechtsstaatlichkeit, soziale und ökologische Gerechtigkeit und internationale Kooperation.

FDP-Präsident Thierry Burkart sagte in seiner Antrittsrede, die Schweiz dürfe kein «Erziehungs- und Umverteilungsbiotop» werden. Was er damit eigentlich sagte: Kein Fortschritt nirgends.