Europapolitik: Die Wende vom Wankdorf
Die FDP-Basis bewahrt ihre Parteispitze vor einem fatalen strategischen Fehler. Wie es dazu kam und was das für die Linke bedeutet.

«Irgendetwas stimmt hier nicht!», ruft ein sichtlich aufgebrachter Delegierter. Drei Stunden schon dauert die Diskussion der FDP über ihren Kurs in der Europapolitik, hier in einem schmucklosen Kongresssaal im Bauch des Berner Wankdorfstadions. Zu einem «Fest der Demokratie» hat der abtretende Parteipräsident Thierry Burkart die Versammlung zu Beginn erklärt. Doch mit der Demokratie ist es halt so eine Sache: Sie lässt sich selten von oben herab verordnen, schlägt aber öfter unerwartet von unten zurück.
Der Unmut des Delegierten wurde durch einen Auftritt des Solothurner Nationalrats Simon Michel erregt. Nachdem die Partei mit einer deutlichen Dreiviertelmehrheit die Unterstützung der Bilateralen III beschlossen hat, diskutiert sie die Frage, ob die Volksabstimmung darüber mit Ständemehr stattfinden soll – obwohl in der Verfassung kein solches vorgesehen ist. Michel, der im Vorfeld eine Arbeitsgruppe von Befürworter:innen der Verträge geleitet hat, soll ein Schlusswort gegen das Ständemehr halten. Aber was macht der Michel denn da?
Opportunistische Pirouette
Er steigt auf die Bühne und dreht eine opportunistische Pirouette. «Die Partei ist ebenso wichtig wie die Frage der Bilateralen. Lasst uns die Hand geben für ein doppeltes Mehr!», sagt er zum Zürcher Stadtrat Filippo Leutenegger, der die Arbeitsgruppe der Gegner:innen geleitet hat. Michel und Leutenegger reichen sich auf der Bühne symbolträchtig die Hand.
Präsident Burkart setzt noch einen drauf. Der Parteivorstand sei in der Frage des Ständemehrs gespalten gewesen, führt er aus. Deshalb habe er den Stichentscheid für das doppelte Mehr gefällt. Auch das neue Präsidium mit Susanne Vincenz-Stauffacher und Benjamin Mühlemann, das erst noch gewählt werden muss, teile diese Empfehlung: «Im Sinn der Kohäsion unserer Partei.»
Der Delegierte, der aufmuckt, wird von Burkart runtergeputzt: Die Argumente von beiden Seiten seien hinlänglich bekannt. So schreitet die FDP-Basis zur Abstimmung. Und stimmt, trotz der inszenierten Harmonie, gegen die eigene Parteileitung: Mit 232 Nein zu 189 Ja lehnt sie ein Ständemehr ab.
Der Entscheid kommt überraschend – und er ist für die Politik in der Schweiz von erheblicher Tragweite. Wenn sich die FDP-Parlamentarier:innen an die Beschlussfassung ihrer Partei halten, wird das Ständemehr im Parlament nicht durchkommen. Womit wiederum die Chancen der Bilateralen III in einer möglichen Volksabstimmung rapide steigen. Würde mit Ständemehr abgestimmt, müsste das Volksmehr über 55 Prozent betragen – das zeigen vergleichbare Abstimmungen in der Vergangenheit wie jene im Jahr 2005 über die Schengen-Dublin-Abkommen.
Wie nur konnten sich die alte und auch die neue Parteispitze derart verkalkulieren in der Einschätzung der eigenen Basis? Und wie reagiert man im linken Lager auf die unerwartete Wende vom Wankdorf?
Grenzkantone gegen Steueroasen
«Die Romands sind durchmarschiert», zischt Filippo Leutenegger kurz nach der überraschenden Abstimmung. Tatsächlich haben die Westschweizer Delegierten in zahlreichen Voten für die Abkommen und gegen das Ständemehr geworben – meist extra auf Deutsch, damit sie von allen verstanden werden. Dabei betonen sie, die Frage des Ständemehrs habe nichts mit der Romandie zu tun, vielmehr gehe es um die Achtung der Verfassung.
«Wir sind die Partei der Institutionen, haben die moderne Schweiz aufgebaut. Darum haben wir auch Respekt vor den Institutionen», sagt etwa die Waadtländer Staatsrätin Christelle Luisier im Brustton der liberalen Selbstüberzeugung. Unterstützung gibt es auch aus der Ostschweiz. So meint der Thurgauer Regierungsrat Walter Schönholzer: «Wo Grundlagen in der Verfassung fehlen, können wir diese nicht einfach einführen.» Das Ständemehr sei nur dann erforderlich, wenn es um Kompetenzverschiebungen vom Bund zu den Kantonen gehe. Das sei hier nicht gegeben.
Voten wie dieses zeigen, dass die Trennlinie an diesem Morgen, ob grundsätzlich bei den Bilateralen oder beim Ständemehr, nicht einfach zwischen der West- und der Deutschschweiz verläuft, sondern zwischen den exportstarken, häufig grenznahen Kantonen – und den Steueroasen in der Innerschweiz. Da ist etwa die jurassische Kantonsrätin Irène Donzé, die darauf hinweist, dass die Kurzarbeit in ihrem Kanton bei zehn Prozent liege und eine Stärkung der Bilateralen angesichts der weltweiten Krisen für die Arbeitsplätze zwingend sei. Oder der St. Galler Finanzchef Marc Mächler, der erzählt, dass er sehr gerne mit den Nachbar:innen in Bayern oder in Vorarlberg zusammenarbeite, deren Handelspolitik aber nun einmal in Brüssel gemacht werde. Daniel Gruber, der Präsident der Kantonalpartei Zug, gibt derweil bekannt, dass seine Partei grossmehrheitlich gegen die neuen Verträge sei. Prominent für ein Ständemehr setzt sich auch die Schwyzer Ständerätin Petra Gössi ein.
Und noch ein Unterschied lässt sich an diesem Samstag heraushören: Die Realität im Bundeshaus scheint mit jener draussen im Land gerade wenig zu tun zu haben. Die eidgenössischen Parlamentarier:innen sind viel eher versucht, sich mit dem Ständemehr bei der SVP anzudienen, als die Regierungsrät:innen oder einfachen Parteimitglieder. Fast muss man von einer Realitätsverzerrung in Bern sprechen – geprägt wohl auch von den rechten Medien. So hat die NZZ in der Europafrage seit Monaten den Kompass verloren und irrlichternd ein Ständemehr empfohlen. Was dessen Anwendung für die FDP bedeuten würde, bringt noch einmal die jurassische Delegierte Donzé auf den Punkt: «Ein Ständemehr ist gegen unsere eigenen Interessen. Wir würden damit zur Totengräberin der eigenen Partei.»
So rettet am Ende die Basis die Parteileitung vor einem schweren strategischen Fehler – was viel aussagt über deren bedenklichen Formstand zwei Jahre vor den nächsten nationalen Wahlen. Immerhin hat sie verstanden, dass ihre Uhr tickt, wenn auch eher unfreiwillig komisch: Draussen vor dem Stadion steht ein grosser, aufblasbarer Wecker mit dem neusten FDP-Wahlslogan, «Für alle, die den Wecker stellen».
Wermuths Warnung
«Ich freue mich natürlich, dass die Partei nicht nur früh, sondern jetzt auch wieder für die Bilateralen aufsteht», spottet SP-Kopräsident Cédric Wermuth am Montag nach der Versammlung. Beeinflusst vom medialen Abschottungsnationalismus, hätte die FDP-Parteispitze beinahe den bilateralen Weg verlassen – und damit das wichtigste identitätsstiftende Thema der Partei preisgegeben. «Die FDP hätte damit zusammen mit der SVP die Schweiz in die Abschottung und ins Chaos geführt.»
Wermuth findet die freisinnigen Entscheide beruhigend, warnt aber vor falscher Euphorie. Zuerst müsse das Vertragspaket nun auch mit den vom Bundesrat beschlossenen Massnahmen zum Lohnschutz durchs Parlament kommen. «Dabei verträgt es nichts, überhaupt nichts, was den Stabilisierungsteil schwächt.» Für einige Bürgerliche möge es verlockend sein, mit Angriffen auf den Lohnschutz die Verantwortung für die Bilateralen III auf die Linken abzuschieben. «Doch wer den Lohnschutz angreift, gefährdet das ganze Vertragspaket.»
Auch für Gewerkschaftschef Pierre-Yves-Maillard ist das FDP-Resultat besser herausgekommen als erwartet. «Eine Zustimmung zu den Verträgen bei gleichzeitiger Befürwortung des Ständemehrs wäre ein bizarres Zeichen gewesen.» Maillard betont ebenfalls die Bedeutung des Lohnschutzes: «Die vierzehn Massnahmen müssen absolut so bleiben, wie sie vom Bundesrat vorgeschlagen wurden.» Die Kritik der Bürgerlichen am umstrittensten Punkt, einem verbesserten Kündigungsschutz für Vertreter:innen der Beschäftigten, kann er nicht nachvollziehen. «Es geht dabei um wenige Fälle pro Jahr, aber auch um den Respekt vor der gewerkschaftlichen Freiheit.»
Dass für einige Gewerkschafter:innen diese Lohnschutzmassnahmen zu wenig weit gehen, zeigt sich am Unia-Kongress vom kommenden Wochenende in Brig: Dort werden zwei Anträge die Ablehnung der Bilateralen III durch die Gewerkschaften und die Unterstützung eines allfälligen linken Referendums fordern. Der Zentralvorstand lehnt diese Anträge ab. Auch wenn sie chancenlos bleiben dürften: Die Europapolitik wird noch manchen Kongresssaal beschäftigen.