Kommentar: Stoppt Ausschaffungen!

Nr. 32 –

Was die Schweiz derzeit mit afghanischen Flüchtlingen macht, entspricht nicht der angeblich humanitären Tradition dieses Landes.

Die Schweiz schickt Menschen gegen ihren Willen nach Afghanistan zurück. Sofern die jeweilige Regierung dabei kooperiert, schafft die Schweiz in fast jedes Land der Welt aus. Deshalb ist es leider nicht überraschend, dass nach einer pandemiebedingten Pause wieder Ausschaffungsflüge Richtung Kabul, Masar-i Scharif oder Herat starten sollen.

Zum vierten Mal in Folge landete Afghanistan dieses Jahr im Global Peace Index auf dem allerletzten Platz, hinter Syrien und dem Jemen. Doch Bundesrätin Karin Keller-Sutter und die Schweizer Behörden und Gerichte verhalten sich, als herrsche in Afghanistan kein Krieg. Auch im Juli, als die afghanische Regierung ein Schreiben schickte, in dem sie bat, angesichts der vorrückenden Taliban vorerst auf Zwangsausschaffungen zu verzichten, blieben die Schweizer Behörden bei ihrem Kurs. Inzwischen haben die Taliban nicht nur den Sprecher der afghanischen Regierung erschossen, sondern auch mehr als die Hälfte des Landes unter ihrer Kontrolle. Afghanische Medien gehen von 2300 Toten allein letzten Monat aus; parallel ziehen die letzten Nato-SoldatInnen ab. Alles kein Anlass für die Schweiz, ihre Ausschaffungsabsicht zu ändern.

Die afghanische Diaspora in der Schweiz erlebt gegenwärtig eine humanitäre Tragödie über das Smartphonedisplay und per Telefon. Am eindrücklichsten schildert das eine Frau aus Montreux, die in engem Kontakt mit ihrer Familie in Nordafghanistan ist. «Um zu verhindern, dass Taliban die Töchter mit ihren Kämpfern zwangsverheiraten und die Söhne mitnehmen, haben viele damit begonnen, schon kleine Kinder zu verheiraten. Sogar in meiner Familie.» Es breche ihr das Herz. «Auch dass die internationale Gemeinschaft und Länder wie die Schweiz das Geschehen nicht mal lautstark verurteilen», sagt die Juristin.* In der Provinz Farjab, wo Teile ihrer Familie leben, flüchteten viele aus dem Umland in die Stadt. Sie leben dann – wenn sie in der Stadt keine Verwandten haben – auf der Strasse. Bei den Kämpfen Nacht für Nacht sind sie schutzlos. Doch vor einem Raketeneinschlag schützt auch ein Dach über dem Kopf nicht. Die Stadt Farjab ist die fünfte von sechs Provinzhauptstädten, die die Taliban allein in der letzten Woche eingenommen haben.

Manche Diaspora-AfghanInnen fürchten nicht nur um das Leben ihrer Verwandten, sondern auch um ihr eigenes, zum Beispiel Fraidon Asadi: «Ich lebe mit der Angst vor der Abschiebung, aber es gibt eine Menge afghanische Familien in der Schweiz ohne Zukunft.» Seit sechs Jahren ist der Fitnesstrainer aus Herat in der Schweiz, diese lehnte seinen Asylantrag ab. Seine Hoffnung und seine Bitte sei, dass sich die Schweizer Regierung nun entscheide, das Leben dieser Familien und seines zu schützen.

Ausschaffungen nach Herat seien in gewissen Fällen, «insbesondere (…) wenn es sich beim Rückkehrer um einen jungen, gesunden Mann handelt», gerechtfertigt, befand das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) erst vor zwei Monaten. Doch ein nach Herat Ausgeschaffter ist nicht in Sicherheit – egal wie jung und gesund er ist: In den Vororten der Stadt kämpfen in diesen Wochen Taliban gegen Regierungstruppen. Die radikalislamistische Terrorgruppe steht auch kurz vor Masar-i Scharif. In jener Stadt sei von einer «verhältnismässig besseren Lage auszugehen», heisst es im selben Urteil des BVGer. Die Behauptung, dass einzelne Städte sicher seien, wirkt wie ein Kniff, mit dem die Behörden das Unbegründbare begründen: Menschen in ein Kriegsland zu schicken.

Laut aktuellsten Zahlen des Staatssekretariats für Migration sind momentan 169 AfghanInnen sogenannt ausreisepflichtig. Die Behörden wollen diese ausschaffen, falls sie nicht «freiwillig» zurückkehren. Gutverdienende RichterInnen und BeamtInnen sind dafür angestellt, 169 Menschen einzeln nachzuweisen, weshalb ausgerechnet sie sicher sein sollen – in einem Land, in dem sich Krieg und Bürgerkrieg seit über vierzig Jahren abwechseln.

Das ist absurd, die Schweiz muss dem Beispiel Deutschlands folgen, das diesen Schritt gestern beschlossen hat, und mit den Ausschaffungen nach Afghanistan aufhören. Sonst verkommt die Flüchtlingskonvention zum leeren Versprechen.

Aktualisierung vom 12. August 2021: Kurz nach Redaktionsschluss der WOZ gab das Staatssekretariat für Migration (SEM) gestern bekannt, «wegen der veränderten Situation im Land» Ausschaffungen nach Afghanistan bis auf Weiteres auszusetzen. Es würden zudem auch keine Wegweisungen mehr verfügt. Die Vorbereitungen für eine Rückführung würden nur bei straffällig gewordenen Personen weitergeführt.

*Änderung vom 21. November 2023: Auf Bitte der zitierten Juristin haben wir ihren Namen aus diesem Artikel entfernt.