Drohnenkrieg: Leben unter Todesengeln
Seit bald zwanzig Jahren schlagen in Afghanistan Raketen ein, die von ferngesteuerten Drohnen der US-Armee abgefeuert werden. Oft treffen sie Unschuldige, selten wird dies aufgearbeitet. Und Frieden haben sie schon gar nicht gebracht.
Paktia, eine Provinz im Südosten von Afghanistan. Frauen sind mit ihren Kindern zwischen den Hügeln unterwegs, weiden ihr Vieh und sammeln Holz. Es ist November 2019, der Himmel ist klar über dem Distrikt Dschadschi, einer etwas abgelegenen Bergregion. Und dann passiert, was am Hindukusch seit mittlerweile fast zwei Jahrzehnten fast schon zur Normalität geworden ist: Eine US-amerikanische Reaper-Drohne taucht auf und schiesst Hellfire-Raketen ab. Sieben Menschen sterben beim Angriff, darunter drei Frauen und ein Kind. Die Opfer waren ausnahmslos ZivilistInnen.
So beschreibt Mohammed Anwar den Tag, an dem er mehrere Familienmitglieder verloren hat. «Niemand möchte uns zuhören», sagt er am Schluss. «Ich bezweifle, dass die Mörder jemals zur Rechenschaft gezogen werden. Unsere einzige Hoffnung ist Gott», so Anwar. Unter den Opfern seien auch Leute gewesen, die für das Überleben ganzer Familien verantwortlich gewesen seien. Und so sei es schon unzähligen AfghanInnen zuvor ergangen. Andere äussern sich wütender. «Wir sind wie Ameisen für die!», sagt Islam Khan, der in Dschadschi als Lehrer arbeitet. Und er fordert: «Die Mörder müssen vor Gericht gestellt werden. Andernfalls wird nur deutlich, dass sich die westliche Welt nicht für jene Afghanen interessiert, die sie selbst tötet.» Seit Jahren erlebe er schon, wie seine Provinz regelmässig zum Ziel von Drohnenangriffen werde, sagt Khan. Getötet würden dabei hauptsächlich ZivilistInnen – und eben keine militanten Talibankämpfer.
Wie im Computerspiel
Von den Verantwortlichen, die die DorfbewohnerInnen hier beschuldigen, sitzen die meisten weit entfernt in einer der vielen Militärbasen in den USA, von wo aus die Drohneneinsätze gesteuert werden. Auf Luftwaffenstützpunkten in Nevada oder Texas arbeiten Operatorinnen, Piloten und anderes Personal in Schichten, um Menschen in Afghanistan, im Jemen oder in Somalia zu töten. Per Knopfdruck. Wie im Computerspiel. Es ist die pure Dystopie.
Afghanistan ist das am häufigsten von Drohnen bombardierte Land der Welt. Schon der allererste Drohnenangriff der Geschichte fand hier statt, Anfang Oktober 2001, weniger als einen Monat nach den Terroranschlägen vom 11. September. Ziel war der damalige Talibanchef Mullah Muhammad Omar. Getroffen wurde er beim Angriff nicht, stattdessen starben andere AfghanInnen, darunter mutmasslich mehrere ZivilistInnen. In den darauffolgenden Jahren schien sich die Geschichte mehrmals zu wiederholen. «Talibanchef durch Drohnenangriff getötet» wurde zur wiederkehrenden Schlagzeile, und stets erwies sie sich als falsch. 2013 starb Omar eines natürlichen Todes, was aber erst zwei Jahre später bekannt wurde; in der Zwischenzeit jagten ihn die US-Drohnen weiterhin erfolglos. Ähnliches passierte auch mit anderen Terrorfürsten: Aiman al-Sawahiri etwa, der Kopf von al-Kaida, wurde im Verlauf der letzten neunzehn Jahre mehrmals von Drohnen «getötet», bis er wieder auftauchte. Er lebt heute noch.
Und das ferngesteuerte Bombardement läuft weiter. Seit Beginn der Aufzeichnungen durch das Pentagon im Jahr 2006 gab es in Afghanistan nie so viele Bombenangriffe wie im letzten Jahr: Das US-Militär spricht von 7423 Bomben, die 2019 auf das Land geschossen wurden. Wie verlässlich diese Zahl ist und wie viele der registrierten Bomben von Drohnen abgefeuert wurden, ist schwer zu sagen. Das in London ansässige Bureau of Investigative Journalism (TBIJ), das den Luftkrieg im Land seit mehreren Jahren ausführlich analysiert, zählte jedenfalls mindestens 6825 Drohnenangriffe.
Eine konsistente Berichterstattung zum Drohnenkrieg in Afghanistan gibt es aber kaum. Viele Regionen, und dafür ist Dschadschi ein gutes Beispiel, sind dünn besiedelt und schwer zu erreichen. Abgesehen von der Lokalbevölkerung verschlägt es niemanden dorthin. Kommt hinzu, dass grosse Unsicherheit herrscht und weite Teile des ländlichen Afghanistan von den Taliban kontrolliert werden.
Bei genauerem Hinsehen lässt sich aber das verheerende Ausmass der US-amerikanischen Luftangriffe erkennen. Eine umfangreiche Recherche des TBIJ ergab zuletzt, dass in den Jahren 2018 und 2019 insgesamt mindestens 150 ZivilistInnen durch Luftangriffe getötet wurden. Dabei fokussierte die Journalistin des TBIJ auf zehn besonders schwere Angriffe, was aber nur einen Bruchteil der Gesamtzahl darstellt. Bei siebzig der registrierten Opfer handelte es sich um Kinder. In sechs Fällen sprach das US-Militär von «Selbstverteidigung» – eine Version, der die Familien der Opfer vehement widersprachen.
Kaum je sucht das US-Militär die Schauplätze auf, an denen ihre Raketen fälschlicherweise einschlugen. Es ist kein Geheimnis, dass vor Ort kaum Untersuchungen stattfinden. Kürzlich analysierten ForscherInnen der NGO Center for Civilians in Conflict und des Menschenrechtsinstituts der Columbia Law School 228 offizielle Untersuchungen, die vom US-Militär zwischen 2002 und 2015 in Afghanistan, im Irak und in Syrien gemacht worden waren. Resultat: Nur in sechzehn Prozent der in der Studie untersuchten Fälle mit zivilen Opfern hat es eine Überprüfung vor Ort gegeben.
Auch in Dschadschi kamen nach dem Angriff keine US-ErmittlerInnen vorbei, um den Zielort des Angriffs zu untersuchen. Stattdessen berichtete das US-Zentralkommando auf Twitter, dass im gleichen Zeitraum bei einer Operation in der Provinz Faryab im Norden Afghanistans Talibankämpfer getötet worden seien.
Kind oder Kämpfer?
Einst war Lisa Ling für die US-Luftwaffe in Afghanistan als Technikerin tätig und wartete die dort stationierten Drohnen. Heute sagt Ling, der «Krieg gegen den Terror» der USA habe «verbrecherische Ausmasse» erreicht. Als Whistleblowerin kritisiert sie Operationen wie jene in Paktia, und sie betont, dass nach derartigen Angriffen längst Untersuchungen nötig wären. Stattdessen würden zivile Opfer faktisch seit jeher in Kauf genommen – was in ihren Augen als Kriegsverbrechen einzustufen ist. «Jeder Angriff, bei dem Einheimische berichten, dass Zivilisten getötet wurden, sollte vom Internationalen Strafgerichtshof gründlich untersucht werden», sagt die einstige Drohnentechnikerin, «die internationale Gemeinschaft sollte den Hinweisen Gehör schenken.»
Wie andere WhistleblowerInnen, die aus dem Drohnenprogramm ausgestiegen sind, erklärt auch Ling, dass die Operatoren und Pilotinnen auf den US-Militärbasen keinerlei Ahnung hätten, auf wen sie da jeweils schiessen würden. «Sie können nicht sehen, wer bewaffnet ist und wer nicht», so Ling. «Sie können nicht einmal Kinder von bewaffneten Kämpfern unterscheiden.»
Der Sachverhalt mag schnell eindeutig wirken, wenn man sich die Angriffsziele näher anschaut. Die Frage aber, inwiefern solche Drohnenangriffe als Kriegsverbrechen zu bewerten seien, lässt sich weniger eindeutig beantworten. «Die Angriffe können zwar als Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht betrachtet werden», erklärt Patricia Gossman, stellvertretende Direktorin von Human Rights Watch Asien, «aber das macht sie nicht zu Kriegsverbrechen.» Entscheidend sei vor allem, mit welcher Absicht gehandelt werde. «Kriegsverbrechen müssen vorsätzlich oder zumindest hinreichend rücksichtslos begangen werden», so Gossman. Und auch sie sagt nachdrücklich, dass in jedem Fall eine rechtliche Überprüfung sowie Beweise erforderlich seien.
Dem Kriegsnarrativ gefolgt
«Wir glauben nicht an einen Irrtum», sagt Islam Khan, der Lehrer in Dschadschi, «dafür passiert es zu oft.» Wie die Familienangehörigen der Opfer zweifelt er deshalb nicht daran, dass es sich bei den Drohnenangriffen um Menschenrechtsverstösse handelt. «Wir wollen, dass die Täter verfolgt und vor Gericht gestellt werden», fordert Khan deshalb. Der Vorsitzende des Provinzrats von Paktia, Abdul Malik Dschadschai, stimmt ihm zu. «Wortklaubereien interessieren uns nicht», sagt Dschadschai, «wir fordern Gerechtigkeit. Dies ist bloss einer von Tausenden ähnlichen Vorfällen, die sich seit 2001 ereignet haben.»
Im Februar dieses Jahres unterzeichnete die US-Regierung von Präsident Donald Trump in Doha ein Abzugsabkommen mit den Taliban (vgl. «Der steinige Weg zum Frieden» im Anschluss diesen Text). Und tatsächlich ist die Zahl der Drohnenangriffe seither zurückgegangen. Aber der Krieg dauert bereits seit fast zwanzig Jahren, und bisher kam er immer wieder zurück. Und für die Menschen in Dschadschi gibt es keine Garantie: Die Drohnen kamen stets unbemerkt und ohne Grund, warum soll man plötzlich aufhören, sich zu fürchten? Seit langem wird der gesamte Alltag von den «Todesengeln», wie die Drohnen in manchen Gebieten genannt werden, bestimmt. Bäuerinnen und Bergarbeiter fühlen sich während der Arbeit bedroht, Kinder haben Angst während des Spielens und weisen Schlafstörungen auf.
All das werde von der Regierung in Kabul genauso ignoriert wie von der US-Armee, klagen die Leute in Dschadschi. «Die USA behaupten, sie würden Terroristen töten», sagt Islam Khan, «aber das ist nicht wahr. Bauern, Hirten und Frauen sind keine Terroristen.» Eines der Opfer des Angriffs im November sei ein zweijähriges Kind gewesen, «sein Name war Naqib Dschan», erzählt Khan. Auch er selbst habe in den letzten Jahren bei Drohnenangriffen mehrere Familienangehörige verloren. «Wir haben versucht, uns bei den offiziellen Stellen Gehör zu verschaffen», sagt Khan. «Sogar an Präsident Aschraf Ghani persönlich haben wir uns gewandt, aber ihm ist das egal», sagt Khan.
Hatte Afghanistans Expräsident Hamid Karsai die Luftangriffe der USA noch regelmässig heftig kritisiert, hält sich sein Nachfolger Ghani mit Kritik zurück. Seine Regierung ist angesichts des Vormarschs der Taliban in vielen Teilen Afghanistans weiterhin von der militärischen Unterstützung der USA abhängig, weshalb sie es vorzieht, dem offiziellen Kriegsnarrativ der US-Armee zu folgen. So wies sie in einigen Fällen die Berichte von unabhängigen BeobachterInnen und von Menschenrechtsorganisationen offiziell zurück, obwohl diese Beweise für zivile Opfer vorlegen konnten. Es scheint, dass es sie schlicht und einfach nicht geben darf.
Anhaltende Gewalt : Der steinige Weg zum Frieden
Ende Juli begann das islamische Opferfest Eid al-Adha in Afghanistan mit einem Waffenstillstand zwischen Taliban und Regierung. Für viele AfghanInnen muss es sich wie ein Déjà-vu angefühlt haben: So war es schon in den letzten Jahren, und jedes Mal hoffte man auf Frieden – bis der Krieg doch wieder losbrach. «Warum können wir nicht jeden Tag Eid feiern?», lautet ein oft gehörter Spruch. Auch in diesem Jahr waren die dreitägigen Feierlichkeiten noch nicht zu Ende, als aus einigen Provinzen neue Angriffe der Taliban gemeldet wurden. Und am letzten Tag des Fests startete im Osten des Landes auch der IS einen Angriff, bei dem es Dutzende Tote gab.
Weit über 40 000 zivile Todesopfer hat der Krieg in Afghanistan gemäss offiziellen Zahlen seit 2001 schon gefordert. Laut aktuellem Bericht der Uno-Mission in Afghanistan (Unama) sind auch in der ersten Hälfte des Jahres 2020 mindestens 1282 ZivilistInnen getötet worden, darunter 340 Kinder. Für die meisten zivilen Todesopfer waren laut Unama die Taliban (43 Prozent) sowie die afghanische Armee (23 Prozent) verantwortlich. Die Zahl der Opfer durch Luftangriffe der afghanischen Armee hat sich im Vergleich zur ersten Jahreshälfte 2019 verdreifacht. Die Nato-Truppen hingegen befinden sich in der Defensive, seit die Taliban und die USA Ende Februar in Katar ihr Abzugsabkommen unterzeichnet haben. Die Gewalt der Taliban konzentriert sich im Gegenzug hauptsächlich auf die afghanischen Streitkräfte und weniger auf die SoldatInnen der Nato-Länder.
Das Abkommen vom Frühjahr zwischen den USA und den Taliban sieht innerafghanische Friedensverhandlungen vor – unter der Voraussetzung, dass die Regierung 5000 Talibanhäftlinge freilässt. Trotz grosser Unstimmigkeiten hat die Regierung von Präsident Aschraf Ghani in den letzten Monaten bereits 4600 Gefangene entlassen. Um den Entscheid über das Schicksal der restlichen 400 als besonders gefährlich geltenden Männer möglichst breit abzustützen, hat Ghani am vergangenen Wochenende eine grosse Loja Dschirga einberufen: eine traditionelle Versammlung lokaler RepräsentantInnen zur Schlichtung von Streitigkeiten.
Das politische Grossereignis mit 3400 TeilnehmerInnen wurde in Afghanistan sehr kritisch diskutiert – nicht zuletzt aufgrund der Kosten in Millionenhöhe: Der Aufwand für 400 Talibanhäftlinge sei überzogen in einem Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung von umgerechnet knapp einem US-Dollar pro Tag lebt. In der Abschlusserklärung vom Sonntag hat die Loja Dschirga die Entlassung der inhaftierten Taliban empfohlen. Ob der Weg zum Frieden damit geebnet ist, bleibt aber höchst ungewiss.
Emran Feroz