Terrain Gurzelen Biel: Luxus für alle

Nr. 33 –

Fischknusperlibus, Kinderbaustelle, Rasentennis … Seit 2017 ist das ehemalige Stadion des FC Biel Spiel- und Experimentierfeld der Stadtbevölkerung. Ein sommerlicher Augenschein.

  • «Tennis Champagne»: Trotz des exklusiven Namens können hier alle, die Lust haben, den Schläger schwingen.
  • Fast wie in Wimbledon: Manuel Engel und seine Kollegen stellen Tennisfans einen echten Premiumuntergrund zur Verfügung.
  • Viel Betrieb auf der Kinderbaustelle: Sergo Mikirtumov gehört zu dem halben Dutzend Männer und Frauen, die den harten Kern des Projekts bilden. Die Kinderbaustelle soll ein kreativer Freiraum sein, Kinder können hier Grundfertigkeiten mit verschiedenen Werkzeugen lernen. Aktuelles Ergebnis ist eine grosse Holzkonstruktion, die wie ein Abenteuerspielplatz aussieht und das diesjährige Thema «Elemente – Erde, Feuer, Wasser, Luft» abbilden soll. Im Herbst wird die Konstruktion wieder abgerissen, um im folgenden Jahr durch etwas Neues ersetzt zu werden.
  • Maya Hottarek ist seit Beginn bei der soziokulturellen Zwischennutzung des früheren Stadions mit dabei. «Das war auch immer ein Ausloten von Grenzen», sagt die Künstlerin im Rückblick auf die Anfangszeit, als es darum ging, die städtischen Verantwortlichen zu überzeugen. «Wir haben damals ein sehr utopisch klingendes Dossier geschrieben, in dem wir den Akzent auf die Bedeutung von Selbstorganisation gelegt haben. Aber jetzt wird hier von den Leuten Verantwortung übernommen, das ist mega gesund für eine Gesellschaft.» Die Künstlerin hat ihr Atelier im Innenbereich der Haupttribüne, in einem grossen Raum, wo früher der Bieler Fechtklub trainierte.
  • Alles nur gestellt, um einen akkuraten Eindruck zu erwecken? Dany Menninga trägt nach getaner Arbeit einen Staubsauger aus der «Favela» zurück in den Innenbereich der Haupttribüne. Dort hat der umtriebige Musiker auch seinen Proberaum – in der Kabine, in der früher der Trainerstab des FC Biel den Spielern Theorieunterricht erteilte.
  • Auch einen Pädagogen haben sie auf dem Terrain Gurzelen: Samuel Bill ist freiberuflicher Lehrer und sitzt im «Studio Stadion», wo er täglich eine Handvoll Kinder und Jugendliche unterrichtet. Zu ihm kommen Kinder, die aus verschiedenen Gründen vom Unterricht in einer öffentlichen Schule ausgeschlossen wurden, sowie Kinder, die sonst zu Hause unterrichtet werden. Gemeinsam mit seiner Klasse gibt er das «Journal Stadion» heraus, die Zeitung des Terrains Gurzelen, in der Projekte und Veranstaltungen vorgestellt werden: «Es gibt kein wirkliches Curriculum, aber in der Perspektive geht es schon darum, Inhalte aus dem Lehrplan öffentlicher Schulen zu vermitteln.»
  • «Hier war früher die Mannschaftsumkleide des FC Biel», erzählt Mark Stalder. Heute lauschen hier aber nicht mehr verschwitzte Fussballprofis den Halbzeitansprachen des Trainers, sondern es probt die Mundart-Rap-Band Studeyeah. Stalder – Spitzname «Stude» – ist Sänger und Frontmann.
  • Ein Postauto als Kiosk: Gastgeber Roger empfängt ein diverses Publikum, das sich bei ihm mit der Spezialität des Hauses stärken kann: Fischknusperli und Pommes frites.
  • Volles Engagement für die lokale Musikszene: Julie Beriger und ihre MitstreiterInnen organisieren auf dem Rasenplatz des ehemaligen Fussballstadions das Artbeat-Festival.
  • Grüne Oase: Rebekka Lindenmaier gehört zu den Glücklichen, die eine Gartenparzelle auf dem Terrain Gurzelen ergattern konnten.

«Wir sind einfache Leute hier», ruft Manuel Engel lachend, während er einen Markierungswagen systematisch über den Rasen schiebt, um die Spielfeldlinien nachzuziehen. Einfache Leute? Das mag vielleicht für Engels legeres Outfit gelten: Der 45-Jährige trägt T-Shirt, Shorts und weisse Tennissocken, auf den Kopf hat er sich eine grüne Schildmütze gesetzt – falsch herum. Ansonsten aber ist Engel gerade mit der Pflege eines echten Luxusguts beschäftigt: eines zweier Rasentennisplätze, die es auf dem Terrain Gurzelen in Biel gibt.

Rasen gilt als der Premiumuntergrund im Tennis, die meisten Klubs haben Sand- oder Teppichplätze, weil das Grün pflegeintensiv und daher teuer im Unterhalt ist. Zehn Millimeter seien schon eine gute Rasenlänge, erläutert Engel: In Wimbledon, wo das berühmteste Tennisturnier der Welt stattfindet, betrage sie acht. «Wir hier sind bei neun Millimetern», sagt der Bieler Platzwart nicht ganz ohne Stolz.

Während Rasentennis eigentlich eine exklusive Angelegenheit und nichts für «einfache Leute» ist, sieht das beim «Tennis Champagne» auf dem Terrain Gurzelen anders aus – trotz des Namens, der auf die Champagneallee anspielt, an der das Gelände liegt. Von Donnerstag bis Sonntag kann hier jedefrau und jedermann den Tennisschläger schwingen – schweizweit eine Einzigartigkeit. Die übrigen Wochentage, sagt Greenkeeper Engel, der mit vier Mitstreitern das Projekt ins Leben gerufen hat und ihm den Grossteil seiner Freizeit opfert, benötige der Rasen zur Regeneration. Und er weiss, wovon er spricht: Engel und seine Kollegen haben sogar einen Workshop in Wimbledon besucht, um von den weltweit anerkannten Fachleuten die Geheimnisse der Rasenpflege zu lernen.

Eine Art soziales Labor

«Tennis Champagne» ist Luxus für alle – aber nur eines der vielen Projekte, die auf dem Terrain Gurzelen ein Zuhause gefunden haben. Seit 2017 ist das ehemalige Stadion des FC Biel, der in die Tissot-Arena umgezogen ist, ein Spiel- und Experimentierfeld für die Stadtbevölkerung: Es gibt hier Proberäume für Bands, ein Kunstatelier, eine Holzwerkstatt für Kinder, einen Skatepark, Räume für Partys und Konzerte, Freifläche für Open-Air-Veranstaltungen und kleine landwirtschaftliche Projekte und, und, und …

«Das Terrain Gurzelen zeigt, wie Neues von unten entstehen kann, wenn man der Zivilgesellschaft Raum dafür gibt», sagt Sabine Zurschmitten bei der Führung übers Gelände. Die Idee für die Zwischennutzung sei damals vom Architekturforum Biel gekommen, erzählt die 42-jährige Sozialanthropologin, die sich im Vorstand des Vereins engagiert, der sich zur Koordination des Projekts gegründet hat. Anfangs habe es auch kritische Stimmen gegeben, da manche fürchteten, man könnte ungewollt einer Besetzung des Geländes Tür und Tor öffnen. «Es gab Bedenken, hier könnte eine zweite Reitschule entstehen», sagt Zurschmitten. Inzwischen aber geniesse das, was die Leute aus den umliegenden Quartieren auf der Stadionbrache hätten entstehen lassen, viel Wertschätzung.

Mittelfristig sollen auf dem Gelände Genossenschaftswohnungen gebaut werden. Wann genau, ist aber noch unklar. Ende 2016 schloss die Stadt Biel mit dem Verein, der sich um die soziokulturelle Zwischennutzung des Terrains Gurzelen kümmert, einen Gebrauchsleihvertrag ab, der auf drei Jahre befristet war. Dieser lief Ende 2019 aus, wurde aber verlängert – ohne Befristung, was wohl ein Zeichen dafür ist, dass es mit der Zwischennutzung noch ein Weilchen weitergehen wird.

«Es macht aber gerade den Reiz aus, dass das, was hier entsteht, nicht für immer ist: Man geht mit einem anderen Spirit an eine Sache, wenn man weiss, dass es irgendwann auch wieder vorbei ist», sagt Rebekka Lindenmaier. Die 48-Jährige zählt zu denen, die einen Teil des früheren Fussballplatzes heute landwirtschaftlich nutzen, – und damit zu einem exklusiven Kreis, da die Gartenparzellen auf dem Terrain sehr begehrt sind: Dutzende Interessierte stehen auf der Warteliste. Sie sei von Anfang an dabei gewesen, erzählt Lindenmaier, ohne irgendwelche Erfahrungen mit dem Gärtnern mitzubringen. «Mir hat einfach die Vorstellung gefallen, dass man auf einer vormals homogenen grünen Fläche Blumen und Pflanzen anbaut.»

Wenn man mit Lindenmaier spricht, merkt man allerdings rasch, dass ihr das Miteinander, das auf dem Terrain Gurzelen entstanden ist, genauso wichtig ist wie das Wühlen in der Erde. «Das hier ist eine Art soziales Labor, man lernt Leute kennen, hilft einander, hat Austausch unter- und Freude aneinander», sagt sie. Überhaupt mache das den Spirit Biels aus: «Es ist multikulturell und sehr divers, was hier zusammenkommt.»

Zwischen Favela und Quartierspelunke

Auch Sabine Zurschmitten ist es wichtig, dass eine Stadt jenseits von Konsumzonen auch Raum bietet für ältere Menschen, für Leute unterschiedlicher Herkunft, für Freaks und unangepasste Typen. Letztere kann man etwa auf der Haupttribüne des Stadions treffen, wo ausser einer grossen Rutschbahn für Kinder eine mediterran anmutende Freiluftbar steht. «Favela» wird dieser Bereich hier genannt, weil er etwas wilder aussieht: Die jungen Erwachsenen dort, die gerade mit den Vorbereitungen für den abendlichen Barbetrieb beschäftigt sind, nähmen es mit dem Aufräumen nicht immer so genau, erzählt Zurschmitten – schlimm scheint das hier aber niemand zu finden.

Hinter der Tribüne, im Aussenbereich des früheren Stadions, hat «Rogers Kiosk» in einem alten Postauto ein Zuhause gefunden. Zwei ältere Männer sitzen hier im Schatten und trinken Bier, aus der Anlage dröhnen gut abgehangene Rockhits. Kioskbetreiber Roger – olives Tanktop, rote Badeschlappen mit Schweizerkreuz drauf – steht an der Fritteuse, wo er Pommes und Fischknusperli zubereitet: die Spezialität des Hauses, allerdings auch die einzige Speise, die auf der Karte steht. Wie vielfältig das Publikum ist, das das Terrain Gurzelen anzieht, lässt sich hier besonders gut beobachten: Roger und sein Kiosk strahlen den Charme einer verrauchten Quartierspelunke aus, und es würde einen nicht wundern, gäbe es im Innern des Busses einen Spielautomaten. Trotzdem stehen hier auch junge Leute an, die für ein Kunst- und Musikfestival auf das Terrain Gurzelen gekommen sind und sich mit Frittiertem stärken möchten.

Rendezvous diverser Milieus

Zu den OrganisatorInnen des Artbeat-Festivals gehört Julie Beriger. Normalerweise fänden die Konzerte und Workshops auf dem Robert-Walser-Platz in der Innenstadt statt, erzählt die Jazzmusikerin. Wegen Corona sei man dieses Jahr aufs Terrain Gurzelen ausgewichen: Das ehemalige Fussballfeld biete mehr Platz, sodass die Leute leichter Abstand halten könnten. «Aber wir sind auch hier, weil es uns darum geht, dass verschiedene Milieus zusammenkommen», sagt Beriger, ehe sie weitereilt, um den Auftritt der nächsten Band auf der kleinen Zeltbühne vorzubereiten.

Die Zeit zwischen den Konzerten überbrücken derweil DJs, die auf der Gegentribüne ihr Set aufgebaut haben. Dort stehen etwas verloren auch einige schwarze Sessel herum, «unser Mahnmal für gescheiterte Projekte», wie Sabine Zurschmitten sagt: Jemand wollte hier mal ein kleines Kino aufbauen, aber daraus wurde dann doch nichts. Auf der Gegentribüne ist auch ein grosses Banner angebracht, auf dem auf Französisch die Frage formuliert ist: «Und was, wenn Wohnen mehr bedeuten würde, als zwischen vier Wänden zu leben?»

Die einfachen Leute vom Terrain Gurzelen scheinen darauf eine Antwort gefunden zu haben.