Kost & Logis: Keine Altersgrenzen

Nr. 34 –

Karin Hoffsten kennt jetzt die Macht der Situation

Dass sich ältere Leute reinlegen lassen, weil sich jemand am Telefon als «Enkel» oder «Polizistin» ausgibt, um ihr Erspartes zu ergaunern, steht häufig in der Zeitung. Vielleicht kennen Sie sogar jemanden, dem oder der das schon passiert ist? Und haben kopfschüttelnd gedacht, dass man doch leicht dement sein müsse, um auf so was reinzufallen? Nein? Ich schon. Aber inzwischen weiss ichs besser.

«Hallo – kennst du mich noch?», fragt die freundliche Stimme am Telefon. Dass man da zu grübeln und zu raten beginnt, ist ein menschlicher Reflex. Nennt man einen möglichen Namen, bestätigt die nette Stimme, genau dieser oder jene zu sein und gerade Geld zu brauchen – ein Notfall!

Bei einer Bekannten von mir rief an einem Winterabend nach 22 Uhr ein «falscher Polizist» an. In ihrer Nachbarschaft sei eingebrochen worden, man wolle sie warnen. Einer der Einbrecher, den die Polizei festnehmen konnte, habe ein Notizbuch bei sich getragen, in dem ihre Adresse stehe – bei ihr sei also auch ein Einbruch geplant, und zwei Mitglieder der Bande seien jetzt im Quartier untergetaucht!

Spätestens an dem Punkt war sie so voller Angst, dass sie grosse Mühe hatte, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie hypnotisiert telefonierte sie fast eine Stunde mit dem Betrüger. Und obwohl es ihr zum guten Schluss gelang, nicht zum finanziell geschädigten Opfer zu werden, belastet sie die Situation bis heute. Diese Frau, die voll im Berufsleben steht, versucht seither zu verstehen, was sie hinderte, das Gespräch zu beenden.

Bei der Kantonspolizei Zürich (Kapo) wollte ich Näheres dazu erfahren, was da vor sich geht, und das Wichtigste, was mir eine Kriminologin mitgab, war: «Unterschätzen Sie nie die Macht der Situation!» Als man in der Präventionsabteilung der Kapo begonnen habe, solche Delikte genauer zu untersuchen, habe man realisiert, dass auch sie als Fachleute die (falsche) Erwartung gehabt hätten, Opfer von Telefonbetrug seien vermutlich alt und/oder kognitiv eingeschränkt. Doch dem sei überhaupt nicht so! Zum Opfer könnten Personen jeden Alters und jeder Berufsgattung werden. Eine Betroffene habe die Sicherheitsabteilung einer Bank geleitet.

Mit der «Macht der Situation» ist gemeint, dass in unserer Gesellschaft die wenigsten Menschen davon ausgehen, einfach so belogen zu werden; gleichzeitig sind die anrufenden BetrügerInnen perfekt darin geschult, am Telefon eine ebenso bedrohliche wie vertrauenswürdige Stimmung zu erzeugen, die die angerufene Person in einen Sog zieht.

Ich halte mich zwar immer noch für einigermassen immun. Aber seit ich mich kürzlich aus einer Laune heraus – ach, einfach mal probieren! – unüberlegt mit meiner Handynummer auf einer Plattform anmeldete, die sehr schnell sehr viel Geld versprach, und es erst nach gefühlt tausend Werbeanrufen und -mails schaffte, mich dort auch wieder abzumelden, bin ich mir nicht mehr ganz so sicher.

Karin Hoffsten arbeitet aktuell an einem interaktiven Theaterprojekt zum Thema mit.