Pop: Budenzauber für verlorene Seelen

Nr. 34 –

Der Wind singt ein schiefes Lied, der Duft von Zuckerwatte mischt sich in die Meeresbrise, und aus einer kaputten Jukebox wehen Schlager aus alten Zeiten daher. Willkommen in Coral Island, einem Städtchen, das auch schon bessere Tage gesehen hat, irgendwo an der vernieselten Küste Englands. Den Namen haben sich The Coral aus Blackpool geborgt, wo es tatsächlich einen Vergnügungspark namens «Coral Island» gibt. So heisst jetzt auch der erfundene Schauplatz für die fünfzehn Songs ihres neuen Albums.

Ein Konzeptalbum über ein Kaff am Meer, bevölkert von den schillernden Gestalten einer Strandchilbi: Eigentlich erstaunlich, dass die Band um die Gebrüder James und Ian Skelly erst jetzt darauf gekommen ist. Mit ihrem psychedelisch patinierten Merseybeat bewegten sich The Coral immer wieder nah am Jahrmarkt, schon seit ihrem gefeierten Debüt vor bald zwanzig Jahren. Mit «Coral Island», ihrem zehnten Studioalbum, sind sie in den britischen Charts jetzt so weit vorn gelandet wie seit «Magic & Medicine» (2003) nicht mehr. Als Reiseleiter haben die Skelly-Brüder dabei ihren Grossvater eingespannt, der uns zwischen den Songs wie ein Conférencier durch den Budenzauber von Coral Island führt: von der Feuerschluckerin über den pensionierten Muskelmann bis zum Hauswart, der kein Haus mehr zum Warten hat.

Musikalisch beginnt der Ausflug noch auf breiter Strasse, doch je länger wir durch diese abgehalfterte Kleinstadt flanieren, desto verwunschener wird auch das Album. «Golden days are gone» heisst es mittendrin, wir sind am Ende des Piers angelangt. Aber der Conférencier widerspricht sogleich und verlängert die Saison: Von wegen ausgestorben, seht nur, das Treiben auf der Strandpromenade! Im zweiten Teil des kurzen Doppelalbums wird das Licht schummriger. Ein Engel ohne Gesicht geistert im Mondlicht herum, zu Orgel und Melodica spuken verlorene Seelen durch die Kulissenstadt. Und dort drüben sitzt der Werwolf: Saisonschluss, er hat seine Maske abgelegt.

The Coral: Coral Island. Run on Records. 2021