Beth Gibbons: Sachte hinein ins Nirgendwo

Nr. 20 –

Als Sängerin von Portishead ist Beth Gibbons ein Phänomen: Wie kann eine so verlorene Stimme so tröstlich sein? Auf ihrem neuen Soloalbum bleibt die 59-Jährige Schmerzensfrau.

Beth Gibbons
Abschied «von der, die ich war»: Beth Gibbons wächst über die Grenzen der grobstofflichen Welt hinaus.   Foto: Netti Habel

Das bislang letzte Lebenszeichen von Portishead war ein Notruf. Ein einzelner Song nur, die ersten Zeilen könnten von heute sein: «Where are those happy days? They seem so hard to find.»

Wer hats erkannt? Es war eine Coverversion von Abbas «SOS», aufgenommen für einen Filmsoundtrack, aber offiziell nur als Video veröffentlicht, im Jahr 2016, acht Jahre nach dem sperrigen letzten Portishead-Album. Bei Abba war dieser Appell an eine gefährdete Liebe noch eine ausgelassene Tanznummer, bei Beth Gibbons nur noch – nackte Trauer. Alles stark verlangsamt, das Arrangement maximal reduziert, die Umgebung dräuend, kalt, gespenstisch. «SOS», aber auf verlorenem Posten. Überwältigend.

Jetzt, weitere acht Jahre später: «Lives Outgrown», ein neues Album der Portishead-Sängerin Beth Gibbons. Es ist ihr drittes, wenn man ihr Solodebüt («Out of Season», 2002) und ihre Aufnahme der dritten Sinfonie von Henryk Górecki («Symphony of Sorrowful Songs», 2019) mitzählt, aber ihr erstes allein unter ihrem Namen. Und es klingt wärmer und organischer als fast alles, was sie mit Portishead gemacht hat. Gibbons knüpft hier eher wieder beim Talk-Talk-Kontinuum an – bei den Ausläufern jener anderen Band also, der sie seit ihren Anfängen als Sängerin vor über dreissig Jahren verbunden geblieben ist.

Dieser epochale Spuk

Damals, 1994, sang sie auch bei der experimentellen Nachfolgeband, die der Bassist Paul Webb und der Schlagzeuger Lee Harris nach dem Ende von Talk Talk gegründet hatten. Dann kam etwas Epochales dazwischen: «Dummy», dieser knisternde Spuk von Portishead. Nebeneffekt: Weltruhm. Doch die Kontakte blieben, für ihr erstes Soloalbum tat sich Beth Gibbons später wieder mit Paul Webb zusammen; schon dort war auch Lee Harris mit dabei.

Mit diesem hat sie jetzt «Lives Outgrown» aufgenommen. Seine Instrumente jedoch liess der Schlagzeuger diesmal weitgehend unbenutzt: Lee Harris soll vor allem auf Kisten, Flaschen und anderen umfunktionierten Alltagsgegenständen getrommelt und auch mal mit Erbsen gefüllte Gläser geschüttelt haben. Weil er aber wohl durchwegs mit gefilzten Schlägern spielt, klingt das so gar nicht nach Wanderzirkus in der Haushaltsabteilung. «Lives Outgrown» ist ein überraschend perkussives Album, aber als solches ungemein behutsam – oft klingt das, als sei hier ein ganzes Ensemble klopfender Herzen ganz sachte amplifiziert worden.

Sorgenvoll sind die Songs auch hier. Zehn Lieder aus den letzten zehn Jahren sind es, angefangen mit der leisen Geistermusik von «Tell Me Who You Are Today». Sie neigen zum psychedelischen Folk, nehmen dabei immer mal wieder eine merkwürdige Abzweigung, ganz selten auch in Richtung kontrollierten Lärm («Rewind»). Einmal wirds sogar lustig, ganz kurz nur, als zwischen den Taktwechseln von «Lost Changes» ein Pfeifen wie aus einem Spaghettiwestern herüberweht – und gleich wieder verstummt.

Humor? Beth Gibbons bleibt Schmerzensfrau. Sie besingt das Dasein als eine Last, die sich einfach nicht abschütteln lasse («Burden of Life»). In der magistralen Vorabsingle «Floating on a Moment» ist sie unterwegs zum grossen Nirgendwo am Ende des Lebens, von einem Kinderchor begleitet dem Jenseits entgegen. Kann man zärtlicher von der eigenen Sterblichkeit singen? Das machte doch schon bei Portishead einen Teil der Faszination aus, dieses Mysterium ihres Gesangs: Wie kann eine so verlorene Stimme so tröstlich sein?

Wo die Liebe flüstert

Wobei, so verloren klingt sie hier gar nicht mehr, und das liegt wohl am dritten im Bunde, dem britischen Superproducer James Ford, der auch das jüngst erschienene neue Album der Pet Shop Boys produziert hat. Trotz leisem Knarzen und gelegentlichen Dissonanzen: Ford hat «Lives Outgrown» überaus wohnlich eingerichtet, weich gepolstert mit Streichern. So schmiegsam in ihre Umgebung eingebettet war der Gesang von Beth Gibbons noch nie – aber weil ihre unverwechselbare Stimme deshalb kaum Reibungsflächen findet, ragt sie auch seltener heraus. Fast sehnt man sich nach den Demoversionen, in denen diese Lieder vielleicht noch etwas weniger Komfort hatten, dafür mehr Luft.

Der Titel schillert übrigens mehrdeutig: «Lives Outgrown», das können die Leben sein, die einem über den Kopf gewachsen sind, aber auch die, denen man entwachsen ist. Die letzten zehn Jahre seien eine Zeit der Abschiede gewesen, hiess es im Februar in einer persönlichen, handschriftlichen Notiz, mit der Beth Gibbons das Album angekündigt hatte: von Verwandten und Freund:innen, aber auch «von der, die ich war». Von einem «neuen, doch älteren Horizont» ist darin die Rede, von einer Bewegung hin zum Unbekannten, von der Gabe auch, über die Grenzen dieser grobstofflichen Welt hinauswachsen zu können.

Tatsächlich wirds zum Schluss des Albums noch richtig esoterisch (oder auch einfach etwas naturmystisch, wenn man so will): «Whispering Love» schlingert lieblich voran unterm Blätterdach, «where the sun always shines through the trees of wisdom». Was ganz zuletzt unter den Bäumen der Weisheit zurückbleibt: zwitschernde Vögel, gackernde Hühner. Das Wispern der Liebe?

Konzert: Zürich, Theater 11, Di, 28. Mai 2024, 20 Uhr (fast ausverkauft).

Albumcover «Lives Outgrown» von Beth Gibbons
Beth Gibbons: «Lives Outgrown». Domino Records /Irascible. 2024.