Zeitgeschichte: Antikommunismus aus dem Aschram

Nr. 34 –

In seinem neuen Buch beleuchtet der Historiker Philipp Sarasin die Welt im Jahr 1977 – und spürt dort den Ursprüngen heutiger demokratischer Verfallserscheinungen nach.

«Wir werden auf keinen Fall als ‹Gleiche› geboren.» Wer wie Sektengründer Bhagwan solches verkündete, konnte natürlich auch guten Gewissens Rolls-Royce fahren. Foto: Rob Crandall, Alamy

Wann fing das eigentlich an mit diesem Gefühl, es unentwegt mit Krisen zu tun zu haben? Zumindest waren auch schon die siebziger Jahre nicht übermässig beschwingt: Die vielen Katastrophenfilme, die damals in die Kinos kamen, waren Kassenschlager, der Bericht über die «Grenzen des Wachstums», veröffentlicht vom ExpertInnengremium Club of Rome, erregte weltweit Aufsehen, und überhaupt wich die bunte Fröhlichkeit der Hippies allgemeiner Ernüchterung.

Der Historiker Tony Judt bezeichnete die Siebziger daher auch als «das deprimierendste Jahrzehnt des 20.  Jahrhunderts», sein Kollege Philip Jenkins gar als «Dekade der Albträume». Ganz so drastisch formuliert es Philipp Sarasin in seiner Monografie «1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart» nicht, aber auch für den in Zürich tätigen Geschichtswissenschaftler sind die Siebziger ein «Jahrzehnt der Verunsicherung», in dem sich «tiefgreifende Verschiebungen, Veränderungen und Brüche im Gefüge der Gegenwart» äusserten.

Damals seien die «Gewissheiten der Moderne» in eine tiefe Krise geraten – der Glaube etwa an die gesellschaftliche Modernisierung durch sozialstaatliche Steuerung oder gar an die Machbarkeit einer Revolution. Dies warf Fragen und Probleme auf, so Sarasins These, die wir von den Siebzigern gleichsam «geerbt haben und seither mit uns tragen». Dazu zählen, wie er zu zeigen versucht, auch heutige identitätspolitische Grabenkämpfe – wenn nicht gar die Krise der Demokratie als solcher.

Schwarzenegger wird Superstar

Was der Historiker darlegen will, ist ambitioniert, aber er präsentiert seine Überlegungen in zugänglicher Form: Sarasin beschränkt sich auf zwölf Monate der Dekade, in die für besagte Trends besonders prägnante Ereignisse fallen. Neu ist dieser Kniff nicht, schon der deutsche Journalist Florian Illies («1913.Der Sommer des Jahrhunderts») landete auf diese Weise einen Bestseller. Zudem existieren bereits Studien, die sich den Jahren 1973 (Ölkrise) und 1979 (Revolution im Iran) widmen.

Sarasin jedoch interessieren weniger grosse weltpolitische Ereignisse als zukunftsweisende gesellschaftliche, kulturelle oder auch technologische Veränderungen, die sich «auf eine erstaunliche Weise im Jahr 1977 bündeln lassen» und die der Historiker anschaulich herausarbeitet. Damals kam in den USA beispielsweise der Film «Pumping Iron» in die Kinos und machte einen Bodybuilder namens Arnold Schwarzenegger zum Superstar. Gleichzeitig elektrisierte der Laufguru James F. Fixx mit seinem «Complete Book of Running» 1977 ein Massenpublikum: Der einst übergewichtige Raucher (der ein paar Jahre später ausgerechnet beim Training einen tödlichen Herzinfarkt erleiden sollte) diente Tausenden als Inspiration, sich selbst Joggingschuhe zuzulegen.

Beispiele aus dem Alltagsleben, die illustrieren, wie sich der Blick zunehmend aufs eigene Ich richtete: Die «Idee der individuellen Fitness» und «Techniken der Selbstformung» wurden immer bedeutender, so Sarasin. Dies äusserte sich auch im Esoterikboom: Überall auf der Welt wurden Aschrams, also Meditationszentren, von AnhängerInnen des indischen Sektengründers Chandra Mohan Jain alias Bhagwan eröffnet. Dieser hatte nicht nur ein gutes Gespür fürs Geschäft und fuhr gerne Rolls-Royce, sondern war auch Antikommunist: Bhagwan lehnte die Idee der Egalität entschieden ab. «Jedes einzelne menschliche Wesen ist selten – unvergleichlich –, ja einzigartig. Wir werden auf keinen Fall als ‹Gleiche› geboren», zitiert Sarasin den Meister.

Das war der Zeitgeist: weg von übergeordneten gesellschaftlichen Zusammenhängen oder gar historischen Grosserzählungen, hin zum Individuell-Singulären. In Sarasins Darstellung versinnbildlichen dies zwei weitere Ereignisse des Jahres 1977: der Tod des marxistischen Philosophen Ernst Bloch, dessen Werk der Freilegung utopischer Regungen in der Menschheitsgeschichte gewidmet war, und der gescheiterte Versuch der linksterroristischen RAF, GenossInnen aus dem Knast freizupressen. Der Revolutionsgedanke hatte dem Historiker zufolge Ende der Siebziger abgewirtschaftet.

Stattdessen blühte der Menschenrechtsdiskurs. Ortsgruppen von Amnesty International waren wie Pilze aus dem Boden geschossen, 1977 gewann die nichtstaatliche Organisation gar den Friedensnobelpreis. «Nicht politische Konflikte und die Interessen von Kollektiven, nicht der Wille zur politischen Veränderung – wie sie insgesamt seit 1789 das Politische strukturiert hatten – standen mehr im Fokus, sondern nun ging es um individuelles Leiden und individuelle ‹Rechte›, die von individuellen Akteuren oder anwaltschaftlichen Gruppen eingeklagt werden», schreibt Sarasin.

Dieser Wandel hin zu einer «Politik der ersten Person» ist aber zumindest ambivalent. Dass gegenwärtig Fragen der Identität so ausgiebig diskutiert werden, lässt sich als Effekt der von Sarasin skizzierten Hinwendung zum Singulären deuten: Nur weil das eigene Selbst ins Zentrum rückte, sind die Forderungen nach einem «Recht auf Differenz» und der Wunsch nach Anerkennung der je individuellen Identität derart virulent geworden. Allerdings ist dieses Konzept ein zweischneidiges Schwert, wie der Historiker im Epilog seiner Darstellung zeigt: Wird «Identität» nämlich eher «dekonstruktivistisch» gedacht, also brüchig und schillernd und damit offen nach aussen? Oder wird vielmehr das «ganz Eigene», Unverhandelbare betont, wie es auch der neurechte «Ethnopluralismus» tut?

Realitäten einer Klassengesellschaft

Sarasin zufolge ist gerade das erstere Identitätsverständnis seit der Jahrtausendwende an den Rand gedrängt worden und damit einem hermetischen Konzept gewichen, «das keinerlei Ansatzpunkt mehr bietet, das Allgemeine zu denken». In Kombination mit dem Stimmengewirr, das das Internet mit sich brachte, würden folglich «der politische Basiskonsens und mit ihm die politische Mitte zu zerfallen» drohen: Wen wundert es da, dass die Demokratie weltweit in die Krise geraten ist?

Allerdings hängt dieser Befund etwas in der Luft, weil Sarasins Darstellung den Eindruck erweckt, bei all dem gehe es primär um anonyme historische Prozesse: «Verschiebungen», in denen die eine Diskursformation eben einfach die andere ablöst. Was ist aber mit den gesellschaftlichen Interessen, denen die Vereinzelung in die Hände spielt? Ein Haufen versprengter Individuen, die solidarisches Handeln nicht mehr kennen, lässt sich ja auch besser ausbeuten und beherrschen – was übrigens der französische Theoretiker Michel Foucault, Sarasins bevorzugter Gewährsmann, anhand der Disziplinartechnik der Parzellierung plastisch beschrieben hat. Wenn heute die Verbände der Chefs an die «Eigenverantwortung» appellieren, dann sprechen daraus wohl weniger philosophische Bedenken gegenüber den «Gewissheiten der Moderne» als vielmehr materielle Erwägungen.

Vermutlich also haben die Brüche ab den Siebzigern auch etwas mit den Realitäten in einer Klassengesellschaft zu tun, in der es ein wirklich «Allgemeines» ohnehin nicht gibt. So klingt es recht pastoral, wenn Sarasin den ja wirklich spektakulären Verfall der US-Demokratie damit erklärt, dass sich die Menschen dort «nicht mehr auf elementare Prinzipien des Zusammenlebens, der Weltwahrnehmung und der Interpretation der eigenen Verfassung einigen können». Diese Phänomene dürften eher Symptome eines Systems sein, das vielen kaum Aussicht auf ein gutes Leben bietet, für einige wenige aber sehr profitabel ist. Die Neuerfindung einer Politik im Plural macht das jedoch nur noch notwendiger.

Philipp Sarasin: 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Suhrkamp Verlag. Berlin 2021. 502 Seiten. 47 Franken