Thomas Welskopp (1961–2021): Keine Angst vor der Systemfrage

Nr. 35 –

Er hatte stets die Gesellschaft im Blick und kochte legendäre Linseneintöpfe: Ein Nachruf auf einen der wichtigsten deutschsprachigen Historiker der letzten Jahrzehnte.

Der Bielefelder Historiker Thomas Welskopp hielt sich von Social Media fern. Edleren Apérogetränken zog er stets ein Pils vor. Seine LehrstuhlmitarbeiterInnen verköstigte er auch mal gerne mit selbstgekochtem Linseneintopf – deftig, aber mit feinsten Geschmacksnuancen. Denen, die ihn kannten, bleibt er vor allem durch seine «angenehme, zurückhaltende Klugheit und Intelligenz» in Erinnerung, wie es eine ehemalige Kollegin formulierte. Zweifellos einer der wichtigsten deutschsprachigen Historiker der letzten Jahrzehnte, war Welskopp weder Medienliebling noch weltfremder Buchgelehrter. Er hatte stets die Gesellschaft im Blick – die aktuelle wie diejenige vergangener Zeiten.

Sozialdemokrat im besten Sinne

Den 1961 in Bochum geborenen Arbeitersohn hatte es 1982 zum Studium nach Bielefeld verschlagen, wo die «Bielefelder Schule» gerade ihre Blütezeit hatte. Historiker wie Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka hatten mit der Politikgeschichte der grossen Männer und ihrer Taten abgeschlossen und untersuchten stattdessen soziale Strukturen, um die Geschichte moderner Gesellschaften neu zu vermessen. Welskopp wurde zu einem ihrer prominentesten Schüler und erhielt 2004 selbst einen Ruf als Professor nach Bielefeld. In seiner Forschung setzte er jedoch dezidiert andere Akzente als seine Lehrer: Für ihn konstituiert sich Gesellschaft aus Praktiken, die Individuen immer wieder miteinander vollziehen und so die gesellschaftlichen Strukturen überhaupt formen.

Gesellschaft ist also nie statisch, sondern «in the making», und auch nie gesichtslos, sondern immer aus individuellen AkteurInnen zusammengesetzt. Dies hat er in seiner Forschung immer wieder meisterhaft vorgeführt: So legt «Das Banner der Brüderlichkeit», seine monumentale Geschichte der frühen Sozialdemokratie, den Fokus weniger auf ideologische Debatten, sondern vielmehr auf das «Miteinander-Tun», das die Bewegung konstituierte – die Demonstrationen und Bierabende, die lokalen und regionalen Kontaktnetzwerke. Auch in «Amerikas grosse Ernüchterung», seiner Geschichte der US-Prohibition, sind es die Konsum- und Schmuggelpraktiken, die das Scheitern des Alkoholverbots anschaulich machen.

Thomas Welskopp war ein Sozialdemokrat im besten Sinne des Wortes. Im Gegensatz zur Mehrheit seiner deutschen HistorikerkollegInnen scheute er sich nicht, von Klassengesellschaft zu sprechen und die Systemfrage zu stellen. Die historische Analyse des Kapitalismus ist ein Anliegen, das sich durch seine Schriften – egal ob zur Arbeiter-, Konsum- oder Unternehmensgeschichte – zieht. Er bestand in Gesprächen mit KollegInnen immer wieder darauf, nicht bloss partikuläre Ausprägungen wie den Neoliberalismus, sondern den Kapitalismus als Ganzes in den Blick zu nehmen. «Eine präzise Beschreibung und Analyse des Kapitalismus in seiner Geschichte», so Welskopp, sei «die schärfste Form möglicher Kapitalismuskritik, da sie die Legitimationen ebenso infrage stellt wie die Ideologie von der organischen, überzeitlichen Unausweichlichkeit dieser Art, die Ökonomie zu organisieren.» Damit war er ganz bei Karl Marx, einem neben Max Weber für ihn zentralen Theoretiker.

Doch Theorie war für Welskopp nichts, was sich HistorikerInnen von Vertretenden anderer Disziplinen frei Haus liefern lassen, um daran fein säuberlich ihre Archivfunde aufzureihen. Vielmehr sollen sich HistorikerInnen selbst an der Theorieproduktion beteiligen und mit «grossen» Theoretikern in einen Dialog auf Augenhöhe treten – was er selbst immer wieder exerziert hat, etwa in den Bereichen Arbeit und Konsum.

Kein Ellbogendenken

Auf Augenhöhe und gänzlich unprofessoral war auch sein Umgang mit SchülerInnen und KollegInnen. Als Direktor der Bielefeld Graduate School in History and Sociology und Vertrauensdozent politischer Stiftungen war ihm an der Förderung des Nachwuchses sehr gelegen – nicht, um ihn in die Exzellenzmaschinerie einzuspeisen, sondern aus Lust an spannenden Themen und guten ForscherInnen. Er war immer wieder bereit, DoktorandInnen mit untypischen Lebensläufen zu betreuen, und konnte auch bei exotischen Forschungsvorhaben wertvolle Hinweise geben. Wer Ellbogendenken und die Kunst der grossen Selbstinszenierung lernen wollte, war bei ihm an der falschen Adresse. Was er dagegen vorlebte, war eine Vision des Umgangs miteinander in der Wissenschaft: kameradschaftlich, aufrichtig, inklusiv, stets an der Sache interessiert. In Zeiten, wo toxische Strukturen und starre Verhältnisse im Unibetrieb immer wieder Thema sind, ist das beileibe nicht wenig.

Mit der Schweiz war Thomas Welskopp aufs Engste verbunden. Die Seminare, die er 2001 bis 2002 an der Uni Zürich abhielt, sind damaligen Studierenden immer noch in Erinnerung. Mit einigen von ihnen gab er 2003 einen Sammelband zur Geschichte der Migros heraus. Er kam immer wieder gerne in die Schweiz zurück und liess sich vom Verfasser dieser Zeilen regelmässig Waadtländer Saucisson nach Bielefeld mitbringen – als Zutat für seine legendären Eintöpfe. Doch die Töpfe bleiben kalt, und von seinen klugen und stets wohlmeinenden Kommentaren können wir auch nicht mehr zehren: Am 19. August, nur wenige Tage vor seinem 60. Geburtstag, ist Thomas Welskopp nach schwerer Krankheit verstorben.

Gleb J. Albert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Zürich.