Jule Govrin: Was hat Ungleichheit mit unseren Körpern zu tun?
Bewegungen wie «Ni una menos» und die progressive Stadtpolitik von Barcelona bieten der Philosophin viel Inspiration beim Nachdenken über unsere Verwundbarkeit und wie diese uns auch verbindet.

WOZ: Jule Govrin, wo stehen wir gerade?
Jule Govrin: An einem Punkt, an dem neue Formen des Faschismus drohen – und immer näher rücken: In Deutschland ist derzeit laut Umfragen die AfD stärkste Kraft. Zugleich sind wir durch die Klimakatastrophe in einem existenziellen Krisenmoment.
WOZ: Die autoritäre Rechte ist auch geprägt vom maskulinistischen Gebaren eines Donald Trump oder eines Javier Milei. Ist dieser schrille Antifeminismus vor allem eine Reaktion darauf, dass es zuletzt starke feministische Bewegungen gab?
Jule Govrin: Das Eintreten für eine patriarchale Geschlechterpolitik war schon immer Teil autoritärer Bewegungen. Zugleich ist der Feminismus einer der erfolgreichsten Gleichheitskämpfe der Gegenwart: Was sich allein seit den siebziger Jahren getan hat, ist erstaunlich. Natürlich sind die autoritären Angriffe auch eine Abwehrreaktion auf diese Errungenschaften. Zudem dienen sie als ideologisches Bindeglied einer international vernetzten Rechten. Es gibt dort viele Strömungen, die sich inhaltlich oft widersprechen. Doch auf Antifeminismus können sich alle einigen.
«Ich betrachte Gleichheit als Praxis, als etwas, das wir im Sozialen herstellen.»
WOZ: In Ihrem Buch schreiben Sie aus der Perspektive der Herrschenden: «Wenn soziale Abgrenzungen gefährdet sind, muss machtstrategisch die Raumordnung der Körper gestärkt werden.» Das würde doch genau das beschreiben, was Sie gerade skizziert haben: Kämpfe haben soziale Abgrenzungen angefochten, nun soll die traditionelle Körperordnung wieder zementiert werden.
Jule Govrin: Feministische Bewegungen fordern zunächst Selbstbestimmung über den eigenen Körper ein, und zwar gerade für die, denen diese trotz des Gleichheitsprinzips der Aufklärung immer verwehrt blieb. Das Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen, wird derzeit von der Rechten frontal angegriffen: Man sieht das an den Illegalisierungen von Abtreibungen in den USA oder in der Aberkennung der Menschenrechte für Menschen, die trans sind. Zugleich will der Feminismus das gute Leben für alle: Es geht darum, die soziale Reproduktion zu stärken. Die reaktionäre Antwort ist hingegen, sämtliche Versorgungsstrukturen zu zerstören.
WOZ: Woran machen Sie das fest?
Jule Govrin: Wenn etwa Milei mit der Kettensäge in der Hand eine Schocktherapie durchsetzen will, also die radikale Zerschlagung sozialstaatlicher Strukturen. In den USA sieht man dasselbe bei den Angriffen auf die Bildung oder die Gesundheitsversorgung. In moderaterer Form lässt sich das auch in Deutschland an den Debatten um die Schuldenbremse beobachten. Zwar wurde Letztere gelockert. Zugleich hat der künftige Kanzler Friedrich Merz betont, dass so Gelder fürs Militär beschafft werden sollen und er Sozialleistungen kürzen will.
WOZ: Waren diese Angriffe auf die soziale Reproduktion für Sie die Motivation, sich mit dem Thema Körper zu beschäftigen? Sie haben ja schon vor ein paar Jahren ein Buch über «Politische Körper» verfasst.
Jule Govrin: Das Vorgängerbuch habe ich während der Pandemie geschrieben. Damals passierte körperpolitisch sehr viel. Ich wollte herausfinden, wie man die Ungleichmachung von Körpern denken kann. Zugleich hat mich die Frage beschäftigt, wie sich Gleichheit ausgehend von körperlicher Verbundenheit entwickeln liesse. Das Thema hat mich nicht losgelassen: So ist daraus das neue Buch entstanden. Diesmal war der Schreibprozess aber eher hart angesichts sich verstärkender Krisen und Kriege. Während der Pandemie gab es vereinzelt die Hoffnung, dass wir uns künftig anders gesellschaftlich organisieren könnten.

WOZ: Die Pandemie scheint manchmal völlig vergessen.
Jule Govrin: Eher dürfte es sich dabei um gesellschaftliche Verdrängung handeln. Was geblieben ist, ist eine Art kollektive Erschöpfung, selbst in eher wohlstandsbehüteten Ländern wie Deutschland, eben weil wir eine massive Krise der sozialen Reproduktion erleben. Trotzdem wollte ich ergründen, wo Gleichheit als Praxis gelebt wird, denn es gibt ja Beispiele, wo sich Menschen anders organisieren, die Sorge umeinander in den Vordergrund stellen. Aus philosophischer Perspektive ist es die Aufgabe, das Wissen darüber zusammenzutragen, um eine linke Gegenerzählung zu formulieren. Wir können ja nicht einfach nur gegen den Faschismus sein, sondern müssen auch sagen, wie wir uns eine lebenswerte Zukunft vorstellen.
WOZ: Im Buch werden Proteste wie diejenigen von «Ni una menos» als Bewegungen gedeutet, die vom Begehren angetrieben seien, Betrauerbarkeit einzufordern. Könnten Sie das erläutern?
Jule Govrin: Die ethische Kategorie der Betrauerbarkeit kommt von Judith Butler. Sie würde wohl Black Lives Matter wie «Ni una menos» als Ausdruck von Trauerpolitiken verstehen. Es liegt auch nahe, dass es bei den von «Ni una menos» angeprangerten Femiziden um Betrauerbarkeit geht. Ich setze mich aber in vielen Punkten von Butler ab – auch was manche ihrer politischen Äusserungen zur Hamas angeht, die diese als «Widerstand» verharmlosen. Formen der emanzipativen Trauerpolitiken sind wichtig, aber man darf nicht dabei stehen bleiben. Vielmehr bedarf es eines transformativen Begehrens. Mich interessiert, welche Formen der solidarischen Sorge diese Bewegungen ausbilden: einerseits in dem, was sie nach aussen tragen, andererseits aber auch darin, wie sie sich nach innen aufstellen. So arbeitet man in den von «Ni una menos» initiierten Versammlungen das eigene Körperwissen um: Man reagiert auf das Gefühl der ohnmächtigen Vereinzelung, indem man sich miteinander organisiert und sich umeinander sorgt. Dadurch entwickelt sich ein neues Körperwissen um die gemeinsame Verbundenheit – und kollektive Handlungsmacht.
«Bei aller Kritik war die Idee der Selbstbestimmung historisch wegweisend.»
WOZ: Dafür sollte man dann nicht nur auf Demos blicken, sondern auch auf das, was an dauerhaften Strukturen geschaffen wird?
Jule Govrin: Natürlich sind die Massen auf der Strasse beeindruckend. Aber mich haben trotzdem eher die Versammlungs- und Organisationsformen interessiert. Wie schaffen es Menschen, sich affektiv gegenzuhabitualisieren, indem sie alltägliche Sachen organisieren: die Kinderbetreuung bei Protesten etwa oder dass man füreinander kocht oder einfach füreinander da ist?
WOZ: Sie sprechen von «affektiver Gegenhabitualisierung». Der Begriff ist vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu inspiriert. Was meint er?
Jule Govrin: Bourdieu hat das Konzept des «Habitus» geprägt, das besagt, dass Ungleichheit oder Herrschaftsverhältnisse immer verkörpert werden: Es geht nicht nur um eine Frage des Bewusstseins, sondern auch darum, wie wir uns im sozialen Raum verhalten, was stark mit Herkunft zusammenhängt. Das ist in unseren Körpern verinnerlicht, weswegen es so schwierig ist, Ungleichheitsstrukturen zu verändern: Diese bestimmen unsere affektive Wahrnehmungsstruktur von uns selbst und der Welt. Ein gutes Beispiel dafür, wie man hier ansetzen kann, bietet die Plataforma de Afectados por la Hipoteca: Nach der Immobilienkrise waren in Spanien viele verschuldet oder hatten ihr Zuhause verloren, was zu Ohnmacht und Vereinsamung geführt hat. Die Plataforma hat durch ritualhafte Versammlungen diesen Gefühlen entgegengearbeitet: Alle standen erst einmal im Kreis und erzählten. Und immer, wenn neue Leute dazukamen, sagte man ihnen: Wir helfen dir, dir selber zu helfen. Dabei zeigte sich eine sorgende, solidarische Selbstverständlichkeit.
WOZ: In welchem Masse Ungleichheit körperlich verinnerlicht ist, zeigt sich etwa, wenn im linken Plenum immer nur die Bürgersöhne reden.
Jule Govrin: Ja, linke Bewegungen müssen verhindern, dass sich solche habituellen Muster fortschreiben. Das geschieht mittels der affektiven Gegenhabitualisierung, indem man versucht, solche Muster etwa durch andere Redepraktiken umzuarbeiten. Wenn wir in der Praxis lernen, füreinander da zu sein und uns nicht mit den ausgefahrenen Ellenbogen voneinander abzugrenzen, schreibt dies das Körperwissen der kapitalistischen Konkurrenz zumindest ein Stück weit um.
WOZ: Wenn Sie von den Körpern ausgehend über Gleichheit nachdenken: Stellen Sie sich da nicht auch gegen die klassisch aufklärerische Tradition, die Gleichheit an ideellen Konzepten wie Würde oder Vernunftbegabung festmacht?
Jule Govrin: Mir geht es darum, Gleichheit materialistisch zu denken. Die Menschenrechte sind wichtig, wir müssen sie entschieden verteidigen. Zugleich reicht formelle, vom Gesetz versprochene Gleichheit nicht aus. De facto sehen wir, dass Menschen in extremem Masse ungleich gemacht werden. In der politischen Philosophie gibt es die Tendenz, Gleichheit als fernes, abstraktes Ideal zu denken. Ich dagegen betrachte Gleichheit als Praxis, als etwas, das wir im Sozialen herstellen durch das solidarische Sich-miteinander-Organisieren, bei dem man sich aller Unterschiede bewusst ist und sich dennoch auf Augenhöhe begegnet. Eine solche Praxis ist immer prekär, also nie endgültig etabliert. Zudem fasse ich Gleichheit insofern materialistisch, als es materielle Grundbedingungen von Gleichheit wie Wohnen, Gesundheit oder Bildung gibt – Dinge, die Menschen benötigen, um selbstbestimmt zu leben.

WOZ: Es geht also auch um eine Kritik am Fokus auf das vernunftbegabte Subjekt?
Jule Govrin: Gleichheit wurde in der Philosophie von Immanuel Kant bis John Rawls an der Vernunft festgemacht, wobei zu Zeiten Kants der Mehrheit der Menschheit die Vernunft und damit der Status als politisches Subjekt abgesprochen wurde: sowohl den Kolonisierten als auch Frauen oder Menschen mit Behinderung. Dabei müssen wir für das Konzept der Gleichheit gar nicht auf dieser Ebene ansetzen: Grundsätzlich eint uns, dass wir verkörperte Wesen sind. Deswegen sind wir voneinander abhängig, durcheinander verwundbar, aber immer auch miteinander verbunden. Das ist der minimale egalitäre Nenner, der uns bei aller Verschiedenheit aneinanderbindet.
WOZ: Sie setzen sich insbesondere mit Thomas Hobbes auseinander, der so etwas wie ein früher Körpertheoretiker war und auch die Verwundbarkeit des Menschen betonte. Was hat Sie an ihm interessiert?
Jule Govrin: Hobbes geht in der Tat von allgemeiner Verwundbarkeit aus, plädiert aber letztlich für ein autoritäres Staatsmodell, das faktisch der englischen Eigentümergesellschaft seiner Zeit entspricht. Für mich zeigt sein Beispiel, wie man ebenfalls mit Körpern und deren Verwundbarkeit beginnen kann, um dann aber einen ganz anderen Weg einzuschlagen. Erst mal denkt Hobbes Körper nicht in ihrer Verbundenheit, sondern als atomistisch eingekapselt: Die Menschen kommen sich bei ihm vor allem in die Quere, geraten in einen antagonistischen Konkurrenzmodus. Durch diesen «Krieg aller gegen alle» sieht er dann einen allmächtigen Staat legitimiert. Es braucht also neben der Grundannahme der Verwundbarkeit zusätzlich die Annahme, dass die geteilte Verwundbarkeit uns aneinanderbindet und dass es darum eben Formen bedarf, sich solidarisch und sorgend miteinander zu organisieren, um egalitäre Praktiken auszubilden.
WOZ: Im Buch geht es auch um das Konzept des «Besitzindividualismus»: Die Idee, dass Gleichheit Selbstbestimmung über den eigenen Körper bedeute, sei «zum Schlüsselparadigma der Moderne» geworden, schreiben Sie. Was besagt dieses Paradigma genau?
Jule Govrin: Der Begriff des Besitzindividualismus kommt vom kanadischen Politikwissenschaftler C. B. Macpherson. Dieser hat John Locke und Hobbes im Kontext der englischen Eigentümergesellschaft interpretiert. Auch Locke bestimmt Gleichheit basierend auf Körpern, spricht von Gleichheit in dem Sinne, dass alle das Recht haben, über ihren Körper zu bestimmen. Zu seiner Zeit hatte das erst einmal emanzipativen Gehalt. Allerdings fasst Locke diesen Gedanken besitzindividualistisch, indem der Körper als Selbstbesitz betrachtet wird: Es handelt sich um eine instrumentalistische Vorstellung vom Körper als Objekt, über das man verfügt. Zudem war Locke biografisch in koloniale Unternehmungen verstrickt und hat das Paradigma des Selbstbesitzes am eigenen Körper wieder eingeschränkt, indem er Menschen, die nicht der Norm des ökonomischen Subjekts entsprachen, diesen Selbstbesitz absprach. Über deren Arbeitskraft sollte man frei verfügen können, was gerade in den Kolonien Versklavung und Landraub legitimierte.
WOZ: Man sieht hier die dunkle Seite der Aufklärung.
Jule Govrin: Ja, aber bei aller Kritik war die Idee der Selbstbestimmung historisch wegweisend. Daher gilt es, diese aus der Verklammerung mit dem Eigentum zu lösen, um zugleich an ihr politisch festzuhalten. Wir müssen Autonomie und Handlungsmacht anders denken, ausgehend von der Verbundenheit von Menschen. Diese Verbundenheit meint nicht, dass Menschen erst vereinzelt sind und dann in eine Beziehung treten, sondern dass wir überhaupt erst in Beziehungen entstehen. Unsere Autonomie ist immer schon davon abhängig, dass wir uns gesellschaftlich organisieren.
WOZ: Ihr Ansatz ist also, zu schauen, wie Autonomie ideengeschichtlich mit Eigentum, Individualismus und Herrschaft verknotet wurde, um dann diesen Knoten zu lösen und alternative Konzepte zu denken?
Jule Govrin: Genau. Ebenso bei Gleichheit: Wenn ich sage, dass es eines Begriffs von materialistischer Gleichheit bedarf, dann meint das nicht ein Gleichsein oder eine Gleichförmigkeit, die alle Unterschiede tilgt. Es geht darum, dass es materieller Bedingungen bedarf, die den Einzelnen Selbstbestimmung erst ermöglichen.
WOZ: Gleichzeitig kritisieren Sie Theoretiker:innen dafür, dass sie auf das Ereignishafte fokussiert seien – in dem Sinne, dass es bei ihnen so klinge, als würde plötzlich eine Bewegung auftauchen, und danach sei dann alles anders.
Jule Govrin: Es gibt in der politischen Philosophie den Hang, das Ereignishafte zu zelebrieren – man versteht ja die Euphorie, wenn plötzlich so etwas wie «Occupy» auftaucht. Aber die Frage ist nicht nur, wie ein Protest nach aussen wirkt, sondern auch, wie er sich nach innen organisiert. Dass etwa «Occupy» in Spanien so erfolgreich war, lag daran, dass es bereits linke Strukturen gab, auf denen man aufbauen konnte. In Bewegungen geht es aber nicht nur darum, wer ganz vorne demonstriert, sondern auch darum, wer hinterher aufräumt, für alle kocht oder emotional da ist. Das versuche ich mit dem Begriff der solidarischen Sorge zu fassen. Es geht also darum, wie man sich in Bewegungen miteinander organisiert und die Sorgearbeit verteilt.
WOZ: Im Buch unterscheiden Sie pointiert die Produktion als Bereich des «thing-making» von der Reproduktion als Bereich des «life-making». Damit verorten Sie sich auch in der feministischen politischen Ökonomie.
Jule Govrin: Genau. Wobei die Begriffe vom «thing-making» und «life-making» von der Historikerin Tithi Bhattacharya stammen. Die feministische Ökonomiekritik hat eine lange Tradition, Maria Mies oder Silvia Federici etwa haben gezeigt: Die Bedingung dafür, dass Lohnarbeit überhaupt ausgebeutet werden kann, liegt in der reproduktiven Arbeit, die unbezahlt bleibt und nicht einmal als Arbeit anerkannt wird. Sowohl private wie auch professionelle Sorgearbeit wird abgewertet. Gerade die Pandemie hat offengelegt, wie prekarisiert Sorgearbeit ist – und das, obwohl sie Gesellschaften zusammenhält. Damals wurden sie zwar als «systemrelevant» symbolisch aufgewertet, aber ökonomisch nicht entsprechend honoriert.
WOZ: Man hat vom Balkon herab applaudiert …
Jule Govrin: … und danach gab es in Deutschland einen langen Pflegestreik, den die Medien aber kaum beachteten – und das trotz der Erfahrung der Pandemie! Die feministische Ökonomiekritik entwickelt jedenfalls auch die Perspektive, dass Ökonomien als Sorge- oder Allgemeinwohlökonomien einzurichten sind, in denen die bestmögliche Daseinsvorsorge für alle das Ziel ist. Es gibt dazu realpolitische Ansätze, etwa das Konzept der «sorgenden Städte», das in Barcelona unter Bürgermeisterin Ada Colau umgesetzt wurde. Dort wurde die egalitäre Sorge ins Zentrum der Stadt- und Wirtschaftspolitik gestellt, die Versorgungsstrukturen wurden enorm ausgebaut, und die Stadtarchitektur wurde im Bestreben einer sozialökologischen Transformation angepasst, etwa durch Hitzeschutz durch Baumbeschattung und öffentliche Begegnungsräume. Das wurde sehr radikaldemokratisch organisiert, in Rücksprache mit Initiativen, Nachbarschaftsprojekten und sozialen Vereinen. Darin zeigt sich Demokratie als nachhaltige Lebensform.
WOZ: In der Linken mag es ein relativ grosses Bewusstsein für die Relevanz von Sorgearbeit geben. Besteht aber nicht die Gefahr, dass es dann bei einer Politik fürs eigene Milieu bleibt?
Jule Govrin: Im Fall Barcelonas hat das schon für viele etwas bewirkt. Natürlich muss man aber auch sagen, dass das nicht alle Gesellschaftsschichten erreicht haben dürfte. Mit meinem Buch «Politische Körper» aber war ich häufig in eher bürgerlichen Kulturinstitutionen zu Gast. Wenn ich dort darüber gesprochen habe, dass alle auf die eine oder andere Art erschöpft sind, dass viele die Versorgung der Kinder, der Angehörigen kaum noch leisten können, weil staatliche Strukturen wegbrechen, weil für alles die Zeit fehlt, habe ich bei fast allen Widerhall gefunden. Es geht hier um eine basale körperliche Erfahrung, die inzwischen auch Menschen machen, die eher wohlstandsbehütet leben.
WOZ: Am Ende Ihres Buchs geht es um das mediale Schreckgespenst «Identitätspolitik», die mit ihrem Fokus auf Partikularinteressen das Ideal der Gleichheit untergrabe …
Jule Govrin: Ich wollte mit der falschen Unterscheidung zwischen vermeintlich universellen Politiken einerseits und Identitätspolitiken andererseits aufräumen. In Sachen Identitätspolitik kommt von rechts gerne der Vorwurf des «Tribalismus». Das beruht auf gezieltem Missverstehen: Die Queer Theory etwa will ja gerade Identitätsgrenzen aufbrechen. Und wir sehen in den USA, wie die Rhetorik des Kulturkampfs genutzt wird, um ein autoritäres Regime zu etablieren, das dann die Meinungsfreiheit ganz real unterbindet und selbst einer verhärteten weissen, maskulinistischen Identitätspolitik folgt. Historisch gesehen, mögen feministische, queere, antirassistische Kämpfe beim Partikularen angesetzt haben. Aber es ging und geht ihnen darum, Gleichheit für alle einzufordern. Dieser universelle Gehalt erlaubt es, Linien zwischen verschieden erscheinenden Kämpfen zu ziehen. Auf die eine oder andere Weise geht es dabei aber immer auch darum, eine egalitäre Sorge für alle zu ermöglichen.
Jule Govrin wurde 1984 in Siegburg in Nordrhein-Westfalen geboren. 2022 erschien von ihr «Politische Körper. Von Sorge und Solidarität», 2023 folgte «Begehrenswert. Erotisches Kapital und Authentizität als Ware» (beide Matthes & Seitz, Berlin). Anfang dieses Jahres veröffentlichte Govrin die Monografie «Universalismus von unten. Eine Theorie radikaler Gleichheit» (Suhrkamp, Berlin). Derzeit ist sie Gastprofessorin am Institut für Philosophie an der Universität Hildesheim. Govrin lebt in Berlin.