Einwurf: Ein Land kennt seine Leute nicht
Die Absage eines albanischen Kulturfestivals in Zürich zeigt: Der Staat orientiert sich in seinem Handeln noch immer an der Mehrheitsgesellschaft. Warum die Schweizer Politik mehr transnationales Denken braucht.
Zürich strahlte dieses Wochenende in den Farben des Regenbogens, in Basel leuchteten die Flutlichtmasten, und in Düdingen loderte am Waldrand ein Feuer. 20 000 feierten an der Pride die Ehe für alle, 30 000 beklatschten im St.-Jakob-Park die Paraden ihres Goalies, und mehr als tausend Musikfans tanzten an der Bad Bonn Kilbi über dem Schiffenensee zu vertrackten Sounds. Nur war an diesem Wochenende Ausgelassenheit ein Privileg, denn ein bestimmter Anlass wurde abgesagt: das Alba-Fest.
Auf der Hardturmbrache in Zürich wären albanische KünstlerInnen aus der ganzen Welt aufgetreten, 20 000 BesucherInnen wären dafür angereist. Doch dann entzog der Zürcher Regierungsrat, mit der Unterschrift von SP-Frau Jacqueline Fehr, kurzfristig die Bewilligung. In einer Medienmitteilung hiess es, das Festival richte sich primär an eine «stark betroffene Community». FerienrückkehrerInnen «aus dem Balkan» hätten sich überdurchschnittlich oft mit dem Coronavirus infiziert, auf den Intensivstationen hätten viele PatientInnen einen «Bezug zum Balkan». Daraus lasse sich schliessen, «dass die Impfquote in dieser Bevölkerungsgruppe zu tief ist, um in der derzeitigen epidemiologischen Lage eine solche Grossveranstaltung verantworten zu können».
Schlicht rassistisch
Nun ist die Lage in der Tat ernst, die Fallzahlen sind wieder hoch, das Pflegepersonal in den Spitälern ist am Anschlag. Aber zum einen hatten sich die VeranstalterInnen des Alba-Fests wie alle anderen auch dazu verpflichtet, die 3G-Strategie anzuwenden. Eintritt hätte nur erhalten, wer nachgewiesen hätte, genesen, geimpft oder getestet zu sein. Von wegen tiefe Impfquote also. Und zum anderen hätte der Regierungsrat, wenn er denn konsequent sein wollte, alle vergleichbaren Grossveranstaltungen absagen müssen. Wie man es in der Sache richtig macht, zeigte der Kanton Thurgau, der ein Open Air in Frauenfeld mit der Begründung absagte, dass die Spitalbetten belegt seien.
Der Entscheid der Zürcher Regierung wurde in den meisten Medien als «diskriminierend» kommentiert, im Kantonsrat als «höchst irritierend» (SP) oder «ungeheuerliche Willkür» (SVP) verurteilt. Man sollte die Begründung der Zürcher Regierung allerdings als das benennen, was sie tatsächlich ist: rassistisch. Folgt man der Definition der Fachstelle für Rassismusbekämpfung des Bundes, ist eine Praxis rassistisch, wenn Menschen aufgrund ihrer körperlichen Merkmale, ihrer religiösen Zugehörigkeit oder ihrer ethnischen Herkunft ungerecht behandelt werden. Dies trifft auf die Vorverurteilung der Zürcher Regierung von Menschen mit «Bezug zum Balkan» zweifellos zu.
Die Ungleichbehandlung zeigt sich auch darin, dass in der Schweiz wöchentlich Folkloreumzüge von MassnahmengegnerInnen ohne jede Einschränkung stattfinden. Hört man sich derweil unter Menschen mit Wurzeln im Kosovo um, so erfährt man Folgendes: Tatsächlich reisten viele diesen Sommer in das Herkunftsland ihrer Familie. Es waren deutlich mehr als sonst, weil die Grenzen im letzten Jahr pandemiebedingt geschlossen waren. Die Regierung des Kleinstaats, auf das Geld der Diaspora angewiesen, liess sie ohne Maskenpflicht gewähren. Die Reisenden steckten sich und andere mit dem Virus an, wie das im Übrigen auch in anderen Feriendestinationen und in der Schweiz selbst der Fall war.
Belastbare Daten zur Impfquote unter MigrantInnen fehlen, die Taskforce des Bundes hat aber auch schon die Hypothese geäussert, dass sie in der albanischsprachigen Bevölkerung tief sei. Dies dürfte gemäss ExpertInnen aber vor allem mit dem Bildungsgrad, der Arbeitssituation im Niedriglohnbereich und der ländlichen Herkunft zu tun haben. Ob sich jemand impfen lässt, ist entgegen der Diffamierung durch die Zürcher Regierung also viel weniger eine ethnische als eine soziale Frage: Fanden jene, die nicht im Büro arbeiten, sondern frühmorgens auf der Baustelle oder spätabends in der Reinigungsschicht, überhaupt die Zeit zur Impfung? Und hat sie der Staat ausreichend über die Angebote informiert?
Mehr Public Health
Angesichts solcher Fragen drängt sich der Verdacht auf, dass der Staat einen beträchtlichen Teil seiner EinwohnerInnen nicht kennt oder auch gar nicht kennen will. Ansonsten hätte es den Verantwortlichen beim Bund und in den Kantonen vor den Sommerferien in den Sinn kommen können, dass viele über den Sommer Familien und Verwandte im Ausland besuchen. Und entsprechend besser geimpft wären. Wie im Übrigen alle Reisenden.
In der Pandemiebekämpfung zeigt sich, dass die Schweiz ihr Handeln noch immer auf einen Nationalstaat ausrichtet, der wie ein Container abgeschlossen ist. Der Bundesrat adressiert eine Bevölkerung von Alteingesessenen, die schon immer zwischen dem Boden- und dem Genfersee gewohnt haben. Transnationale Lebenswelten werden von den Behörden bei ihren Entscheidungen und in der Kommunikation zu wenig berücksichtigt.
Zwar gab es beim Bundesamt für Gesundheit in Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz positive Bemühungen, dass die Gesundheitsinformationen übersetzt und vor allem in migrantischen Medien wie etwa auf dem Portal «Albinfo.ch» verbreitet werden können. Für die Glaubwürdigkeit der Kommunikation hätte es aber wohl noch mehr gebraucht: eine Impfkampagne in Zusammenarbeit mit Firmen und Gewerkschaften etwa, die viele MigrantInnen organisieren. Überhaupt ist die Arbeit in der Schweiz noch immer der wichtigste soziale Treffpunkt. Auch FürsprecherInnen in den einzelnen Communitys hätten zur Glaubwürdigkeit beitragen können. Erst spät begann die Suche nach «InfluencerInnen» wie der Fussballnationalmannschaft.
Natürlich weiss man es im Nachhinein immer besser. Für den kommenden Umgang mit Corona und voraussichtlich auch mit nächsten Pandemien kann man sich nur wünschen, dass der Public-Health-Ansatz, nach dem die Gesundheit eine gesellschaftliche Aufgabe ist, verbessert wird: Statt des wirkmächtigen Glaubens an die sogenannte individuelle Eigenverantwortung sollten unterschiedliche soziale Gruppen in der Gesundheitsversorgung besser berücksichtigt und niederschwellige Angebote wie Impfbusse ausgebaut werden.
Doppelte Geschichten
Und doch bringt das alles nur etwas, wenn der Container des Nationalen geöffnet wird. Denn das billige Bashing der AlbanerInnen, die in den letzten Jahren wiederholt als Sündenböcke herhalten mussten, das Verhalten einer Zürcher Regierung, die einen Teil ihrer EinwohnerInnen als minderwertig behandelt, hat viel mit der Geschichte dieses Landes zu tun. Die postkoloniale Forschung hat in den letzten Jahren gezeigt, wie sich die Schweiz stets gerne als neutraler Kleinstaat inszenierte, doch in höchstem Mass international verflochten von der globalen Ausbeutung profitierte.
Eine transnationale Lebenswelt wird in der öffentlichen Wahrnehmung dennoch in erster Linie einer Gruppe zugebilligt: den AuslandschweizerInnen, die gerne als die fünfte Schweiz bezeichnet werden. Sie zahlen keine Steuern, dürfen aber mitbestimmen. Im Gegensatz zu den EinwanderInnen, denen eine transnationale Identität immer noch abgesprochen wird. Die haben sich gefälligst zu integrieren. Auch wenn die Schweiz spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges zu einer internationalen Gesellschaft geworden ist, in der die verschiedensten Diasporas neben- und miteinander leben. Zugespitzt könnte man sagen, dass auch die Ovomaltine-Skipisten-Schweiz der Alteingessenen nur noch eine Community unter vielen ist.
Transnational bedeutet, wie im Fall der KosovoschweizerInnen: die eigene Geschichte, die eigene Familie nicht nur in Zürich zu haben, sondern auch im Ausland, sich nicht nur über die «Tagesschau» zu informieren, sondern auch über Sender des jeweiligen Herkunftslands. Es war ein spätes Eingeständnis dieser Realitäten, dass Bundesrat Alain Berset mit einem Impfappell auch in einer albanischen TV-Show auftrat. Wie vernetzt die Schweizer Gesellschaft im Kleinen längst geworden ist, zeigt eine einfache Zahl: Fast die Hälfte aller Ehen, die heute geschlossen werden, sind binational.
Raus aus dem Kreis
Wenn die Schweizer Politik diese Lebensverhältnisse berücksichtigen will, dann sollte sie dringend ihre eklatanten Probleme bei der Repräsentation und bei der Information angehen. Denn wenn notorisch ein Viertel der Bevölkerung von der Mitbestimmung ausgeschlossen wird, fehlen auch dessen Wissen und dessen Erfahrungen. Sei das in der Gesundheits-, der Bildungs- oder der Wirtschaftspolitik. Das Gleiche gilt für das öffentliche Radio und Fernsehen. Wenn es sich wie das SRF nur an eine Mehrheitsgesellschaft richtet, wird konstant ein beträchtlicher Teil der Anwesenden ausgeblendet – sei es bei der Herstellung der Informationen oder bei ihrer Vermittlung.
Letztlich muss sich die Politik vom konzentrischen Kreismodell verabschieden, das noch immer jede staatliche Handlung prägt. Demnach hocken in der Mitte die reinen EidgenossInnen, und alle Übrigen haben sich zu ihnen vorzuarbeiten, vom B- zum C-Ausweis und über viele Jahre zur Einbürgerung, mit allen damit verbundenen Diskriminierungen. Und selbst wenn sie das Bürgerrecht besitzen und längst dazugehören, werden sie noch immer als fremd beschrieben. Genau darum ist die Absage des Alba-Festivals auch kein Einzelfall, sondern das Symptom eines grundsätzlichen Problems.
Dagegen helfen nicht nur eine Ausweitung des Bürgerrechts und ein zeitgemässes Radio und Fernsehen. Es braucht auch eine mentale Veränderung in den Köpfen und Neugierde auf die vielfältigen Lebensweisen. Wäre das Alba-Festival nicht verboten worden, ich hätte gar nicht gewusst, dass es stattfindet. Das nächste Mal würde ich hingehen.