Impfskepsis: Misere mit langer Vorgeschichte

Nr. 49 –

Ist die Romantik schuld an der tiefen Impfquote im deutschsprachigen Europa, der Föderalismus und die Stärke rechter Parteien? Oder hat das Desaster viel praktischere Gründe? Antworten aus einer transnationalen Recherche.

Trotz Topfpflanzen nicht gerade einladend: Kantonales Impfzentrum in Herisau AR. Foto: Gian Ehrenzeller, Keystone

«Nein Danke»: So lautete der deutsche Titel eines Artikels, der Mitte November in der britischen «Financial Times» erschien und auf Social Media weite Kreise zog. Die Frage, der die zwei Korrespondenten nachgingen: Was hat es mit der Impfskepsis im deutschsprachigen Europa auf sich? Bezüglich der Datenlage hat sich seither wenig geändert. Aktuell sind in der Schweiz knapp 66 Prozent der Bevölkerung immunisiert, in Deutschland und Österreich sieht es nicht viel besser aus – im westeuropäischen Vergleich sind die drei Länder traurige Schlusslichter. Spitzenreiter Portugal hingegen hat eine Impfrate von fast 90 Prozent.

Über die Gründe für diese Diskrepanz ist nicht nur in der «Financial Times» viel spekuliert worden. Die einen führen das föderalistische Staatsgefüge als Erklärung ins Feld, andere die Anthroposophie und das Erbe der deutschen Romantik, wieder andere die Stärke rechtsnationaler Parteien. Die WOZ hat sich gemeinsam mit dem Wiener «Falter» und der «taz» aus Berlin auf die Suche nach Antworten begeben, mit Historikern und Gesundheitspsychologinnen, Kommunikationsfachleuten, Soziologinnen und Public-Health-Experten gesprochen. Aus ihren Ausführungen folgt eine triviale, aber wichtige Erkenntnis: Den einen Grund für Impfskepsis gibt es nicht – ebenso wenig wie eine homogene Gruppe von Skeptiker:innen. Und: Neben politisch-kulturalistischen Ansätzen sind auch ganz handfeste Gründe für die Impfmisere verantwortlich.

Erstens: Die Romantik

Der deutsche Historiker Malte Thiessen hat sich eingehend mit der Geschichte des Impfens befasst. Er unterscheidet elf Motive für Impfskepsis. Einige davon – etwa die Angst vor Nebenwirkungen – gelten nicht bloss für den deutschsprachigen Raum. Andere Faktoren aber sind dort durchaus besonders ausgeprägt.

Zuletzt machte etwa ein Erklärungsansatz die Runde, den der deutsche Journalist Andreas Speit so zusammenfasst: «Es gibt im deutschsprachigen Raum eine klare geistesgeschichtliche Linie zwischen der Romantik und der heutigen Impfskepsis.» Durch die Hinwendung zur Romantik sei das Natürliche verklärt worden. Betraf dies in anderen Ländern vor allem Literatur und Ästhetik, habe im Deutschland des 19. Jahrhunderts eine politische Strömung an Einfluss gewonnen: die Lebensreformbewegung, sagt Speit, der kürzlich ein Buch zum Thema publiziert hat.

Aus Sorge vor der Urbanisierung und dem Kapitalismus, aus ökologischen Bedenken gegen die Moderne sei eine Sehnsucht nach der Wiederherstellung des Einklangs von Natur und Mensch entstanden. «Aus einem berechtigten Anliegen manifestierte sich eine Kritik, die der Moderne vorhielt, die Welt zu entzaubern – und durch die Rückkehr zu antimoderner Ursprünglichkeit eine Wiederverzauberung forcierte. In diesem Kontext wurde das Judentum als vermeintlich falscher Glaube angefeindet, die Moderne und die Schulmedizin als ‹jüdisch› angegriffen», so der Autor. Eine deutsche Besonderheit, die auf die Romantik zurückzuführen sei. Im Zusammenhang mit Impfungen haben antisemitische Stereotype eine lange Geschichte, sagt auch Medizinhistoriker Thiessen: das Impfen als «Verschwörung einer Elite, die in den Körper eingreift».

Die Soziologin Nadine Frei von der Universität Basel, die die Proteste gegen die Coronamassnahmen in der Schweiz und Deutschland über Monate untersucht hat, stellt wiederum eine «anthroposophisch-esoterische Ablehnung von Impfungen» fest. In einer aktuellen Studie im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung kommen Frei und der Soziologe Oliver Nachtwey zum Schluss, dass der Widerstand gegen die Massnahmen in Westdeutschland vorwiegend ein «akademischer Mittelschichtsprotest» sei.

Was diese Menschen eine, sei ein «libertäres Freiheitsverständnis», bei dem Eigenverantwortung und Selbstbestimmung fast schon absolut gesetzt würden: Der Staat habe einem nichts zu sagen. «Es sind Personen, die staatliche Interventionen in die eigene Lebensführung so gut wie nicht kennen», so Frei. Diese Einstellung spiele dann auch beim Impfen eine Rolle, das ja nicht bloss ein individueller Schutz sei, sondern auch andere schütze. Frei problematisiert, dass diese Leute den Klassenaspekt oft ausblendeten: «Wenn ich in meinem Homeoffice sitze und keinem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt bin, ist es schön und gut, wenn ich sage, ich kann mich einfach gesund ernähren und Corona mache mir nichts aus.» Gesundheit und der Zugang zum Gesundheitssystem seien aber stark von Klasse, Geschlecht und Ethnizität geprägt.

Zweitens: Die politische Kultur

Auch Historiker Jo Lang bestätigt indes: Im Gegensatz zu Frankreich oder England, wo die Romantik eine emanzipatorische Rolle spielte, war sie in Deutschland nicht nur stärker ausgeprägt, sondern auch konservativ. Auf die Schweiz bezogen, sei eine andere politische Besonderheit als Erklärung für Impfskepsis entscheidend. Lang nennt dies den Organizismus: «Geht man davon aus, dass die Grundlage der Gesellschaft das mündige Individuum ist – oder ist man Teil eines vom Gemeinwesen losgelösten Volkskörpers?»

In der Schweiz habe die Impfskepsis einen konservativen Konnex – und sei dort am stärksten, wo der politische Organizismus mit der Landsgemeinde eine lange Tradition habe. Gruppen wie die «Freiheitstrychler» oder die «Freunde der Verfassung» würden die Schweiz in einem alteidgenössischen Sinn denken – mit dem Volk als «Körper», in den man alles Mögliche hineinprojizieren könne. Diese Leute agierten nicht als Citoyens, die dem Gemeinwesen gegenüber verpflichtet seien – und lehnten die Impfung entsprechend ab. So erklärt sich Lang auch die grossen Unterschiede in der Impfrate zwischen der Ur- und der Ostschweiz und etwa der Romandie.

Eine bessere Übersicht verschafft indes ein Blick in die Statistiken: Gemäss der SRG-Coronastudie vom Oktober sind mehr Männer als Frauen geimpft, mehr Alte, mehr Menschen mit vergleichsweise hoher Bildung und einem höheren Haushaltseinkommen. Unter der SVP-Anhängerschaft lehnen rund die Hälfte die Immunisierung ab, bei den Grünen, zu deren Wählerschaft traditionell auch ein alternativ-esoterisches Milieu gehört, sind es hingegen bloss zwölf Prozent.

Der Lausanner Politologe Sean Müller befindet: «Es ist vor allem die ländliche Deutschschweiz, die sich nicht impfen lässt.» Wie Historiker Lang sieht auch Müller die Gründe dafür in der politischen Kultur: Man wolle sich nicht reinreden lassen – schon gar nicht bei der Gesundheit. Laut Müller bringt der Föderalismus diese Kultur zur Geltung: «Jeder für sich, sonst die Gemeinde, irgendwann der Kanton, aber sicher nicht der Bund und schon gar nicht die WHO.» Der Föderalismusforscher sagt aber auch: Rechte Parteien wie die SVP, die AfD oder die FPÖ nutzten eine vorhandene Skepsis gegenüber der Medizin und verstärkten diese, seien aber keine Treiber. «Die Leute lassen sich nicht wegen der SVP nicht impfen, Skeptische folgen aber umgekehrt eher deren Diskurs.»

Medizinhistoriker Malte Thiessen, der das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster leitet, nennt noch einige andere politische Gründe. In Deutschland mit seiner starken liberalen Tradition sei staatlicher Druck und damit auch eine Impfpflicht stets abgelehnt worden. «Die Impfbereitschaft ist ein Mass des Vertrauens in den Staat», so Thiessen. Das Impfen sei ein perfektes Argument, um eine schon lange bestehende Unzufriedenheit («Die da oben machen, was sie wollen») zu mobilisieren.

Politologe Christoph Hofinger, der die Motive für eine Ablehnung der Impfung für das Wiener Sora-Institut untersucht hat, schlägt in eine ähnliche Kerbe: «Es ist ein Mix aus Elitenskepsis und der Pseudosicherheit, dass einem selbst schon nichts passieren wird.» Auch die Gruppe der Skeptiker:innen sei in Österreich demografisch ähnlich zusammengesetzt. So unterstützten die meisten Ungeimpften die neu entstandene Impfgegnerpartei MFG, die bei der Wahl in Oberösterreich im September drei Mandate gewann. Unter den Anhänger:innen der FPÖ seien etwa die Hälfte geimpft. «Ein weiterer wesentlicher Faktor ist der Glaube an Verschwörungstheorien», sagt der Experte.

Auch für Deutschland bieten die Zahlen ein erhellendes Bild: Ebenso wie in den Nachbarstaaten wählten die Hälfte der Ungeimpften zuletzt die AfD, weitere fünfzehn Prozent die «Querdenker»-Partei Die Basis, wie man aus Umfragen weiss. Eine besonders starke Korrelation fand sich in einer Studie in Sachsen, wo die Impfquote mit am tiefsten ist – und die AfD besonders stark.

Die regionalen Unterschiede sind in allen drei Staaten indes gross. In der Schweiz leben die meisten Geimpften in den Kantonen Tessin, Basel-Stadt und Neuenburg, die meisten Ungeimpften in der Ost- und der Innerschweiz. Während das Burgenland und Niederösterreich die höchsten Impfquoten verzeichnen, sieht es in Oberösterreich und Salzburg am schlechtesten aus. Und in Deutschland wird die Quote besser, je nördlicher man kommt, tief ist sie auch in einigen ehemals ostdeutschen Bundesländern.

Drittens: Die schlechte Kampagne

Besonders sticht in Deutschland das Beispiel Bremen hervor – mit einer Impfquote von 84 Prozent. In einem Interview mit der «taz» erklärte Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Die Linke) neulich den Erfolg des deutschen Bundeslands: «Wir haben Daten erhoben, wo die Inzidenzen besonders hoch sind: dort, wo die Arbeits- und Wohnverhältnisse prekärer sind. Und für uns war klar, hier muss man unterstützen, aufklären und Angebote schaffen.» Dafür habe man mit Menschen zusammengearbeitet, die Kontakte in die Communitys hätten, an Stadtteilprogramme angedockt. «Dieses Vertrauen lässt sich nicht in zwei, drei Tagen herstellen, das muss man langfristig aufbauen. Aber wenn Vertrauen da ist, werden die Angebote auch wahrgenommen», so Bernhard.

Das Beispiel Bremen zeigt: Neben den politisch-historischen Argumenten, die Erklärungen für eine tiefe Impfquote bieten, ist auch die Kampagne entscheidend, um Skeptiker:innen zu überzeugen – und gerade die liess in der Schweiz zu wünschen übrig. Suzanne Suggs, Kommunikationswissenschaftlerin an der Universität Lugano, sagt: «Die Kampagne war nicht so effektiv, wie sie hätte sein müssen.» Die Behörden hätten bloss gesagt, man solle sich impfen lassen, aber nicht erklärt, wieso die Impfung die beste Massnahme im Kampf gegen Corona sei – und warum im Schutz anderer eine gesellschaftliche Pflicht bestehe.

Die Kommunikation des Bundesrats sei «sehr schweizerisch-neutral» gewesen, sagt Suggs, die Teil der Science Task Force ist. Auch habe man keine konkreten Impfziele definiert. Anders hätten die Behörden in Portugal und Spanien agiert: Sie hätten an Haustüren geklopft, Briefe oder SMS mit einer Impfaufforderung verschickt, die Impfung auch in Zahnarztpraxen oder Supermärkten ermöglicht. «Dort hat man Solidarität nicht bloss eingefordert, sondern auch erklärt, warum diese wichtig ist.»

Während diese Länder eine lange Tradition «Community-basierter» Handlungen hätten, gelte die Impfung in der Schweiz nach wie vor als individueller Entscheid. Auch hätten die Behörden nicht berücksichtigt, dass effektive Kommunikation zielgruppenspezifisch sein müsse. «Wenn man versucht, alle auf die gleiche Weise zu erreichen, erreicht man letztlich niemanden», sagt Suggs. Dass eine solche Kommunikation in anderen Situationen durchaus funktioniere, sieht die Fachfrau an diversen Beispielen: Sei in einer Gemeinde das Wasser verschmutzt, erhielten alle Betroffenen eine entsprechende Nachricht. Und ab einem gewissen Alter bekomme jede Frau in der Schweiz eine Aufforderung zur Krebsvorsorge. «Die Pandemie wurde nicht mit der gleichen Dringlichkeit behandelt», glaubt Suggs.

In einer Studie, die die Professorin letzte Woche dem BAG präsentierte und die dieser Tage erscheint, zeigt sich aber auch ein weiterer Faktor. So hätten die Behörden bei ihrer Kampagne primär auf Social Media gesetzt – obwohl aus Untersuchungen längst bekannt sei, dass das Fernsehen in allen Altersgruppen am meisten Vertrauen geniesse und in Krisensituationen wesentlich hilfreicher sei.

Politische Einstellungen und historische Prägungen ändern sich nicht von einem Tag auf den anderen; für eine effektive Impfkampagne hingegen ist es nicht zu spät. Impfgegner:innen müsse man erklären, dass sie zwar auf den Piks verzichten könnten, dafür aber andere Massnahmen einhalten müssten, sagt Suggs, die sich seit Jahren mit dem Thema befasst. Skeptiker:innen aber gelte es zu überzeugen – und man müsse jenen helfen, die ihre Meinung geändert hätten. «Diese Leute haben Angst, in ihrem skeptischen Umfeld als Verräter zu gelten», konstatiert die Public-Health-Expertin. Indem man etwa Impfungen an unkonventionellen Orten wie der Post oder dem Coiffeursalon anbiete, ermögliche man diesen Leuten, sich immunisieren zu lassen, ohne ihr Gesicht zu verlieren.