Impfung: Ungleichheit als Barriere
Verschiedene Studien zeigen: Der Zugang und die Bereitschaft zur Covid-19-Impfung sind auch eine soziale Frage. Trägt die Impfkampagne in der Schweiz diesem Umstand genug Rechnung?
In Thüringen probierten sie es mit Gratisessen. Wer sich in Sonneberg Ende Juli gegen Covid-19 impfen liess, bekam eine Bratwurst. Statt den 140 Personen, die sich dort sonst pro Tag im Durchschnitt impfen lassen, kamen fast doppelt so viele. In den sozialen Medien sorgte die Aktion für heftige Reaktionen, es hagelte Spott und Häme für jene, die solche Anreize brauchen.
Dabei lässt sich der Erfolg auch anders lesen. Wer jeden Rappen umdrehen muss, entscheidet anders als die Akademikerin im Homeoffice. Die Notwendigkeit zum Sparen erhöht den Druck auf den Alltag. Und Armut ist auch in der reichen Schweiz Realität: Laut dem Bundesamt für Statistik galten schon vor der Pandemie knapp neun Prozent der Bevölkerung als arm; seither dürfte der Anteil gestiegen sein.
Seit die Impfbereitschaft stagniert, wird auch hierzulande über Anreize diskutiert. Nicht einmal fünfzig Prozent sind vollständig immunisiert, laut einer Auswertung des «Tages-Anzeigers» die tiefste Quote in ganz Westeuropa. Aber gerade jetzt, da die hochgefährliche Deltavariante auch in der Schweiz dominiert, braucht es laut den Gesundheitsbehörden eine Impfquote von mindestens achtzig Prozent, um die sogenannte Herdenimmunität zu erreichen. Bleibt also die Frage, wie man die Zögernden erreicht – und die nach ihren Motiven.
Ist die Impfung auch eine soziale Frage? Darauf deuten zumindest einige Studien hin. Die Universität Mainz wies kürzlich einen Unterschied punkto Impfbereitschaft und -status zwischen Prekarisierten und Besserverdienenden nach. In einem Interview mit der Wochenzeitung «Der Freitag» sagte der Mediziner Benjamin Wachtler: «Viele haben vielleicht keine guten Erfahrungen mit staatlichen Institutionen oder Ärzten gemacht, sind auf Sprachbarrieren gestossen oder auf Diskriminierung, haben Probleme mit Aufenthaltspapieren oder der Krankenkasse. Vertrauen ist keine individuelle Frage, sondern eine der sozialen Erfahrung.»
Ähnliche Hinweise geben auch Zahlen aus der Schweiz. Gemäss der letzten Coronaumfrage der SRG stimmen Gutverdienende einer Impfung eher zu als Menschen mit knappem Budget, solche mit Uniabschluss eher als jene mit einer Lehre, Medienschaffende, WissenschaftlerInnen und leitende Angestellte eher als Personen, die in der Landwirtschaft, dem Tourismus oder dem Baugewerbe tätig sind.
Gemäss Daten der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften vom Juni wiesen Personen mit einem hohen Haushaltseinkommen mit 70 Prozent eine deutlich höhere Impfquote auf als solche mit einem tiefen Einkommen (54 Prozent); leichte Unterschiede zeigten sich auch beim Bildungsniveau. Zwar relativiert Studienautor Marc Höglinger im Gespräch die Zahlen, weil sie bloss eine Momentaufnahme lieferten – und das zu einem Zeitpunkt, als die Impfung erst seit kurzem für alle frei verfügbar war. Doch aus früheren Studien wisse man, dass Bildungsunterschiede eine Rolle spielten: «Es ist eher die ländliche, konservative Bevölkerung mit tendenziell tieferer Bildung und damit auch einem tieferen Einkommen, die sich nicht impfen lässt.» Für die in vielen Medien verbreitete Annahme, wonach die Impfquote in der migrantischen Bevölkerung tiefer sei, lieferten die aktuellen Daten wie auch frühere Studien hingegen keine Evidenz, so der Experte für Gesundheitsversorgung.
Vertrauensvolle Orte
Einer, der sich in seiner täglichen Arbeit mit Fragen von Gesundheit und Ungleichheit beschäftigt, ist Daniel Schröpfer. Der 48-Jährige ist Zürcher Stadtarzt und betreut im Ambulatorium Kanonengasse seit Jahren jene, die durch die Maschen fallen: Sexarbeiterinnen und Sans-Papiers, Obdachlose und Menschen, die ihre Rechnungen nicht mehr zahlen können oder aus anderen Gründen den Gang zur Hausärztin meiden, die sich nicht so einfach in einem Impfzentrum anmelden können. Seit Mitte Juni können sich diese sogenannt vulnerablen Personen im Ambulatorium gegen Corona impfen lassen. «In den ersten zwei Tagen war es sehr ruhig, danach sprach sich unser Angebot in den Communitys rum, seither werden wir von Impfwilligen überrannt», sagt Schröpfer. Über 450 Personen seien inzwischen geimpft worden – sehr viele für eine Gruppe, die man sonst nicht erreiche. «Eine kleine Erfolgsgeschichte.»
Die Episode zeigt, wie wichtig Orte sind, an denen Vertrauen aufgebaut werden kann, und dies über Jahre. An denen es Wissen darüber gibt, wie man Menschen behandelt, ohne sie zu stigmatisieren, wie wichtig interkulturelle Teams sind, die verschiedene Sprachen sprechen. Auch die Weltgesundheitsorganisation betonte bereits im Januar, wie zentral die Kooperation mit verschiedenen Communitys für den Impferfolg sei. «Man darf ihre Wirkung nicht unterschätzen», bestätigt Schröpfer. Und man müsse vulnerablen Personen die Impfung so einfach zugänglich machen wie möglich.
«Für viele unserer Klientinnen und Klienten ist es nicht immer einfach, ärztliche Termine einzuhalten, sich auf einer Onlineplattform zu orientieren oder sich korrekt anzumelden.» Insbesondere für Menschen in ungesicherten Arbeitsverhältnissen sei ein Ausfall aufgrund von Nebenwirkungen und die damit verbundene finanzielle Einbusse von grosser Bedeutung. Umso wichtiger seien niederschwellige Angebote wie jenes im Ambulatorium, aber etwa auch Impfbusse, die in die Gemeinden fahren und die Unsicheren überzeugen können. Kürzlich hat der Kanton Zürich den Einsatz einer mobilen Impfstation angekündigt, im Kanton Bern ist eine solche bereits im Einsatz. Andere Kantone setzten auf Container vor Einkaufszentren oder auf Pausenplätzen sowie auf Betriebs- oder Gruppenimpfungen.
Ausbrüche in Asylzentren
«Die Kantone versuchen, die Impfbereitschaft mit kreativen Ansätzen zu erhöhen», schreibt die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren auf Anfrage. Ideen wie die direkte Kontaktaufnahme mit ungeimpften Personen, wie sie etwa die wissenschaftliche Taskforce des Bundes zuletzt forderte, oder Gratisbratwürste seien bei einem Austausch von Bund und Kantonen letzte Woche «eher skeptisch» beurteilt worden.
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) teilt mit, man wolle in den kommenden Wochen vor allem Jüngere adressieren und dabei auch auf die sozialen Medien setzen. «Ziel ist es auch, den Zugang zum Impfen möglichst chancengleich und niederschwellig zu gestalten.» Das Schweizerische Rote Kreuz hat im Auftrag des BAG entsprechende Empfehlungen für einen einfacheren Zugang erstellt.
Ob der Plan der Behörden aufgeht, ist zurzeit schwer abzuschätzen. Welche Folgen es hat, wenn Menschen in prekären Verhältnissen nicht geimpft sind, zeigt ein Blick in die Asylzentren. Im Bässlergut in Basel hat sich kürzlich rund die Hälfte der 150 BewohnerInnen mit Corona infiziert, und auch im Kanton Solothurn gab es einen grösseren Ausbruch. Gemäss dem Staatssekretariat für Migration seien in den Bundesasylzentren seit Mitte März 401 Personen einmal geimpft, 150 Personen hätten auch schon die zweite Dosis erhalten. Insgesamt lebten dort rund 2300 Menschen. Berücksichtige man die Fluktuation in den Asylzentren, liege die Impfquote bei 15 bis 20 Prozent.
Zwar betont die Behörde, dass die Impfbereitschaft der Asylsuchenden damit nicht niedriger sei als jene der SchweizerInnen in der gleichen Alterskategorie (bei den 18–39-Jährigen). Doch wie die Ausbrüche in den Asylzentren zeigen, sind diese aufgrund der beengten Verhältnisse dem Virus stärker ausgeliefert. Besonders eilig scheint man es mit der Immunisierung allerdings nicht zu haben: Man analysiere die Gründe, die zu einer ablehnenden Haltung gegenüber der Impfung führten; im Anschluss werde man über zusätzliche Massnahmen entscheiden.