Organspenden: Wer zur Spende schweigt, sagt automatisch Ja

Nr. 37 –

Ohne die Bevölkerung im Vorfeld informiert zu haben, dürfte das Parlament in der Herbstsession die erweiterte Widerspruchslösung bei der Organspende einführen. Das sei ethisch wie rechtlich problematisch, sagt die Philosophin Birgit Christensen – und werde die Angehörigen künftig noch mehr belasten.

Bei der aktuell geltenden Zustimmungsregelung muss der Wille zur Organspende explizit dokumentiert sein. Chirurgin mit Organbehälter. Foto: Robert Kneschke, Alamy

WOZ: Frau Christensen, aktuell warten in der Schweiz 1450 Menschen auf ein lebensrettendes Organ. Falls nächste Woche der Ständerat ebenfalls grünes Licht gibt, vollzieht die Schweiz einen Systemwechsel: Wer nicht aktiv widerspricht, gilt künftig als Organspenderin respektive Organspender. Ist das nicht ein Grund zur Freude?
Birgit Christensen: Freude für wen? Ich glaube nicht, dass es mit diesem Systemwechsel zwangsläufig mehr Organspenden geben wird. Denn die unterschiedlichen Regelungen korrelieren nicht mit der Spendequote, wie auch die Nationale Ethikkommission unlängst betont hat. Wichtiger sind kulturelle Faktoren. Im Tessin galt die Zustimmungsregelung schon, bevor sie landesweit eingeführt wurde, und die Spendequote dort war höher als anderswo mit der Widerspruchsregelung.

In Umfragen ist die Spendebereitschaft in der ganzen Schweiz hoch – deutlich über fünfzig Prozent. Wo liegt das Problem?
Wer der Idee der Organspende grundsätzlich zustimmt, muss im konkreten Fall deswegen noch lange nicht bereit sein, die eigenen Organe zu spenden. Kommt hinzu: Die Organspende ist grundsätzlich mit einem hohen moralischen Druck verbunden. Man wird aus solidarischen, altruistischen Motiven dazu aufgefordert – schauen Sie nur die Kampagnen von Bund und Swisstransplant an, der nationalen Stiftung für Organspende und Transplantation. Da will sich in Umfragen niemand in die egoistische Ecke drängen lassen, indem er oder sie Nein sagt. Trotzdem haben die jahrelangen Kampagnen von Bund und Swisstransplant kaum etwas verändert.

Aus rechtlicher Perspektive muss für eine Organentnahme und -transplantation ein sogenannter Informed Consent vorliegen, eine informierte Einwilligung. Wie soll das funktionieren, wenn man künftig davon ausgeht, dass grundsätzlich einwilligt, wer sich nicht aktiv wehrt?
Das ist ein extrem heikler Punkt. Fällt die Einwilligungspflicht weg, wird auch die Informations- und Aufklärungspflicht brüchig. Besonders stossend finde ich in diesem Zusammenhang: Wenn auch der Ständerat nächste Woche der erweiterten Widerspruchslösung zustimmt, wird das Gesetz geändert, ohne dass wir Stimmbürgerinnen und Stimmbürger uns noch dazu äussern können. Dabei stünde der Bund im Vorfeld eines Systemwechsels noch viel mehr in der Informations- und Aufklärungspflicht. Denn man muss dafür sorgen, dass alle wissen, dass sie sich zur Organspende äussern müssen, damit nicht einfach von ihrer Zustimmung ausgegangen wird.

Ist es rechtlich überhaupt zulässig, davon auszugehen, dass, wer schweigt, automatisch Ja sagt zur Organspende?
Juristisch gesehen ist das hoch problematisch – eine Ausnahmesituation. Im Medizinrecht gilt der Grundsatz, dass jede medizinische Intervention am Körper eine Körperverletzung darstellt – ausser die betroffene Person erlaubt dies explizit. Deshalb muss für jede Operation eine schriftliche Einwilligung vorliegen, die dokumentiert, dass die betroffene Person über alle möglichen Folgen der Intervention aufgeklärt wurde. Ausser in Notfällen darf kein Eingriff geschehen, der nicht ausdrücklich erlaubt worden ist.

Deshalb will der Bundesrat die erweiterte Widerspruchslösung, bei der noch die Angehörigen befragt werden. Wenn diese nicht erreicht werden, dürfen wie bisher keine Organe entnommen werden. Was ändert sich denn mit dem Systemwechsel noch?
Paradoxerweise bringt er für die Angehörigen nicht etwa eine Entlastung, sondern macht ihre Position noch prekärer. Denn die Ärzte werden sagen, die Person habe ja die Chance gehabt, einer Organentnahme zu widersprechen, habe dies jedoch nicht getan. Also dürfe man doch davon ausgehen, dass sie eingewilligt hätte. Für die Angehörigen kann es schwieriger werden, Nein zu sagen.

Umso wichtiger ist ein «Informed Consent». Sind wir im Fall der Organspende wirklich genug aufgeklärt?
Nein, gerade im Zusammenhang mit dem Hirntod hat praktisch keine Aufklärung stattgefunden.

Der Hirntod, also die zerebrale Flatline, die als Zeitpunkt des Todes definiert wird und so die Grundlage für eine Organentnahme schafft, ist in Ländern wie Deutschland oder den USA zunehmend umstritten – weshalb?
Neurologische Forschungen haben zur Erkenntnis geführt, dass die zentrale Voraussetzung für den Hirntod nicht erfüllt ist. Man ging immer davon aus, dass mit dem Ausfall des Hirns auch sämtliche integrativen Fähigkeiten des Körpers wegfallen. Doch mittlerweile weiss man, dass auf zellulärer Ebene viele Funktionen weiter bestehen: Hirntote Kinder kommen in die Pubertät, im Körper von Schwangeren reifen Embryos, die nach neun Monaten gesund zur Welt kommen. Das Hirn ist nicht die einzige zentrale Steuerinstanz im Körper.

Bei Organentnahmen beobachtet man immer wieder den sogenannten Lazarus-Effekt: Für tot Erklärte schlagen um sich, haben Schweissausbrüche und Herzrasen. Wie können wir sicher sein, dass dies rein nervlich-vegetative Reaktionen sind und Hirntote keine Schmerzen empfinden?
Diese Sicherheit gibt es nicht. In der Schweiz werden Organentnahmen deshalb unter Vollnarkose vorgenommen. Das ist wohl etwas, was den meisten Menschen nicht bewusst ist. Sie gehen davon aus, dass die Organentnahme «postmortal» geschieht, dass man zum Zeitpunkt der Entnahme also «wirklich» tot ist, eine Leiche im herkömmlichen Sinn.

Tot ist also nicht gleich tot?
Seit der Einführung des Hirntods im Recht 2007 gibt es zwei verschiedene Formen von Tod. Der eine ist der traditionelle, lebensweltliche Tod, bei dem das Herz stillsteht und die Atmung aufhört. Der neue Tod basiert auf dem Kriterium des irreversiblen Endes aller Hirnfunktionen. Das Paradoxe an diesem Kriterium ist, dass es zwei Kategorien von Menschen schafft: Die einen werden als lebendig betrachtet, bis man die Herz-Kreislauf- und Beatmungsmaschinen abstellt, um sie sterben zu lassen. Die anderen sind ebenfalls mit diesen Maschinen verbunden, werden jedoch für tot erklärt. Nur dann dürfen ihnen Organe entnommen werden.

In den USA wird deshalb gefordert, nicht länger von einem «toten Spender» zu reden, sondern von der «Tötung zwecks Organentnahme». Stellt das Ärztinnen und Ärzte angesichts ihres hippokratischen Eides nicht vor ein unmögliches Dilemma?
Doch. Ein Arzt darf einen Menschen nicht töten. Auch rechtlich ist es nicht erlaubt, jemanden zwecks Organentnahme zu töten. Sollte sich erweisen, dass Hirntod nicht mit Tod gleichgesetzt werden kann, müsste ein spezielles Konstrukt wie zum Beispiel die «gerechtfertigte Tötung» im Rahmen der Transplantationschirurgie als Ausnahmeregelung im Recht eingeführt werden. Damit würde aber auch die Unterscheidung zwischen passiver und aktiver Sterbehilfe aufgeweicht.

Der Verein Äpol (Ärzte und Pflegefachpersonen gegen Organspende am Lebensende) erachtet auch deshalb nur Lebendspenden – also etwa eine Nierenspende – als vertretbar. Wie sehen Sie das?
Auf Organspenden von Hirntoten zu verzichten, scheint mir keine Option zu sein. Dazu ist die Transplantationschirurgie viel zu weit fortgeschritten. Eine rechtlich und auch ethisch überzeugende Einwilligung in die Organspende erfolgt meines Erachtens mit der engen Zustimmungsregelung. Bedenkenswert finde ich auch die Normierung, die in Japan gilt: Dort dürfen Angehörige gegen den Willen der betroffenen Person Nein sagen. Der Gedanke dahinter ist, dass sie als Hinterbliebene in ihren Pietätsgefühlen ebenfalls zu berücksichtigen sind. Als Alternative zur Zustimmung ist die Erklärungsregelung, wie sie in Deutschland praktiziert wird, überzeugend: Alle Personen werden immer wieder informiert und ersucht, ihren Willen kundzutun.

Birgit Christensen

Die Menschen werden so faktisch gezwungen, sich mit dem Thema Organspende auseinanderzusetzen.
Das stimmt, aber der «Informed Consent» muss gerade im Bereich der Transplantationschirurgie zentral sein. Wird Schweigen mit Ja gleichgesetzt, droht der Schutz des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Körper zu erodieren. Es braucht eine öffentliche Debatte über all die mit der Organtransplantation verbundenen Problematiken. Dazu gehört die Diskussion über die Modalitäten der Zustimmung ebenso wie jene über die Hirntodproblematik. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass jemand vor diesem Hintergrund aus solidarischen Motiven einer Organentnahme zustimmt.

Der Systemwechsel

Im März 2019 reichte die Jeune Chambre Internationale Riviera mit Sitz in Montreux die Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten» ein. Sie fordert einen Wechsel von der aktuell geltenden Zustimmungsregelung, in der der Wille zur Organspende explizit dokumentiert sein muss, zur sogenannten «Widerspruchslösung»: Wer sich zu Lebzeiten nicht äussert, gilt als OrganspenderIn. Eine Annahme der Initiative würde zu einer Verfassungsänderung führen.

Im Dezember 2019 formulierte der Bundesrat einen indirekten Gegenvorschlag zur Initiative: Seine «erweiterte Widerspruchslösung» sieht vor, dass Angehörige weiterhin einbezogen werden müssen. Dies soll mit einer Änderung des Transplantationsgesetzes erreicht werden. Dazu braucht es keine Volksabstimmung, sondern nur die Zustimmung des Parlaments. Der Nationalrat hat in der Sommersession 2021 bereits deutlich Ja gesagt. Am 20. September steht die Entscheidung im Ständerat an. Seine Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit unterstützt die «erweiterte Widerspruchslösung» klar.

Birgit Christensen

Die Zürcher Philosophin und Juristin forscht zu Themen rund um Bioethik und Recht. Die 61-Jährige hat sich in diesem Rahmen unter anderem auch mit der Organspendeproblematik auseinandergesetzt. Im Frühling 2022 erscheint von ihr eine rechts- und philosophiegeschichtliche Untersuchung zum menschlichen Körper im Biomedizinrecht.