Impffragen: Physischer Zwang nicht möglich
Österreich hat die Covid-19-Impfung für obligatorisch erklärt. Rechtlich wäre das unter gewissen Voraussetzungen auch in der Schweiz denkbar. Namhafte Expert:innen sprechen sich jedoch dagegen aus.
Dieser Tage blicken viele besorgt nach Österreich. Das Land ist – wie die Corona-Taskforce des Bundes gerade festhielt – der Schweiz etwa drei bis fünf Wochen voraus, was die Entwicklung der Fallzahlen angeht. Seit Anfang der Woche gilt im Nachbarland ein Lockdown, zudem hat die Regierung angekündigt, per Februar eine Impfpflicht einzuführen. Der Ruf nach einem Obligatorium, das lange als No-Go galt, wird momentan auch in Deutschland laut. Und in der Schweiz warnen zahlreiche Fahnen von Gegner:innen des Covid-19-Gesetzes vor einem «Impfzwang» – obwohl eine solche Massnahme im Gesetz nicht vorgesehen ist.
Doch wäre es hierzulande rechtlich überhaupt möglich, dass der Staat eine Impfung für obligatorisch erklärt? «Ja, aber nur unter gewissen Voraussetzungen», sagt Lorenz Langer, Assistenzprofessor für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Zürich. Laut Epidemiengesetz könnten die Kantone, wenn eine erhebliche Gefahr besteht, ein Obligatorium für bestimmte Personenkreise einführen, etwa für «besonders gefährdete oder exponierte» Personen. «In der ‹normalen Lage› könnte ein Kanton zum Beispiel bestimmen, dass alle Pflegefachleute gegen Hepatitis B geimpft sein müssen», so Langer. In der zurzeit geltenden «besonderen Lage» könne auch der Bundesrat eine Impfpflicht für bestimmte Personengruppen einführen.
Erst alle milderen Mittel
In der «ausserordentlichen Lage» – wie etwa im vergangenen April – könnte die Regierung laut Langer im Prinzip auch eine allgemeine Impfpflicht verfügen: «Das steht zwar nicht explizit im Gesetz, aber da der Bundesrat fürs ganze Land dringend notwendige Massnahmen anordnen kann, würde das wahrscheinlich auch ein allgemeines Impfobligatorium mit einschliessen.» Die Massnahme müsse jedoch in jedem Fall verhältnismässig und alle milderen Mittel müssten bereits ausgeschöpft sein, etwa weil man mit freiwilligen Impfungen allein die Gefahr nicht abwenden könne.
«Es ist ganz klar nicht möglich, Leute physisch zu einer Impfung zu zwingen», sagt Langer, der unter anderem zur Rechtsgeschichte des Impfens forscht. «Das hat es meines Wissens bisher erst einmal gegeben: 1904 in Rio de Janeiro hat man probiert, die Pockenimpfung mit militärischer Gewalt durchzuführen, was aber umgehend zu Revolten führte.» Das letzte nationale Obligatorium in der Schweiz galt von 1944 bis 1948, ebenfalls gegen die Pocken. Heute gibt es nur noch in den Kantonen Genf und Neuenburg eine Diphterie-Impfpflicht, die jedoch nicht durchgesetzt wird.
In den Nachbarländern sind solche Obligatorien gang und gäbe. So sind in Frankreich und Italien all jene Impfungen Pflicht, die in der Schweiz vom Bundesamt für Gesundheit lediglich empfohlen werden: Diphterie, Tetanus, Polio, Masern, Mumps, Röteln … In Deutschland gilt seit März 2020 ein Masernimpfobligatorium für Kleinkinder und Personal in Gesundheits- und Gemeinschaftseinrichtungen. Ungeimpfte Kinder dürfen etwa keine Kita mehr besuchen, ungeimpftes Personal darf nicht mehr in Gemeinschaftseinrichtungen arbeiten. Wer sich nicht daran hält, wird gebüsst. «In Deutschland standen bei dieser Entscheidung klar die Grundrechte Dritter im Vordergrund», so Langer. Diese waren auch bei einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zentral, der kürzlich eine Beschwerde gegen ein weit gefasstes Impfobligatorium in Tschechien abwies.
Das Schweizer Epidemiengesetz sieht als Sanktion jedoch keine Bussen vor, möglich wäre bei Nichtbefolgen des Impfobligatoriums aber beispielsweise eine Einschränkung der Berufsausübung. «Werden Bussen gesprochen, kann man eigentlich schon von einem Impfzwang sprechen. In den Debatten rund um das Referendum gegen das neue Epidemiengesetz von 2012 war das ein grosses Thema», erinnert sich Langer. «Der Gesetzgeber hat darum ganz bewusst keine Bussen ins Gesetz integriert.»
Ungeimpfte in der Pflicht
Die rechtliche Basis ist also vorhanden, doch ist eine Impfpflicht überhaupt sinnvoll und nötig? «Ich war noch nie für eine generelle Impfpflicht, das ist nicht der Weg, auf dem man gemeinsam vorankommt», sagt der Basler Epidemiologe Marcel Tanner, der bis Anfang Jahr die Expertengruppe Public Health in der Taskforce leitete. Die jetzige Situation sei zu erwarten gewesen.
Bekanntlich schütze Impfen nur sehr gut – zu über 90 Prozent – vor der Krankheit, aber weit weniger vor der Infektion. «Bei einer Wirksamkeit eines Impfstoffs von 90 Prozent haben wir bei einer Million geimpften Menschen noch immer 100 000, die erkranken können.» Bei der Deltavariante beträgt die Wirksamkeit der mRNA-Impfungen gegen Infektionen unter 70 Prozent, und die Schutzwirkung nimmt mit der Zeit ab. Es sind also sowohl Geimpfte als auch Ungeimpfte, die zum Infektionsgeschehen beitragen – wenn auch in unterschiedlichem Ausmass.
«Wir müssen mit dem Virus leben. Selbst bei einer Impfquote von 100 Prozent und auch wenn die Pandemie vorbei ist, wird es immer wieder zu Ausbrüchen kommen», so Tanner. «Ja, die Impfung ist wichtig, und es braucht auch den Booster, nun vor allem für die Risikogruppen. Sie ist aber nicht die einzige Lösung, sondern ein wichtiger Teil des Massnahmenbündels zur Bewältigung dieser Pandemie.»
Der Epidemiologe nimmt die Ungeimpften dennoch in die Pflicht: Man müsse es respektieren, wenn sich jemand nicht impfen lassen wolle. «Diese Leute müssen sich aber regelmässig testen. Das ist ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Als Mensch in einem sozialen Gewebe muss man immer den Gesamtkontext sehen und Solidarität und nicht den Individualismus pflegen.»
Informierte Einwilligung nötig
Schon bevor es überhaupt einen Impfstoff gegen Covid-19 gab, schloss der Bundesrat ein Impfobligatorium kategorisch aus – bis heute. Derweil stellen immer mehr Expert:innen die Impfpflicht zumindest zur Diskussion. Epidemiologie Christian Althaus meinte in einem Interview mit der NZZ, ein vorübergehendes Impfobligatorium für das Pflegepersonal ergebe «zum Schutz der Patienten sicher Sinn» und sei «prüfenswert». Auf «Watson» plädierte der Medizinethiker Mathias Wirth gar für ein allgemeines Obligatorium, da alle anderen Massnahmen ausgeschöpft seien.
Anders sieht es die Nationale Ethikkommission (NEK). «Eine Impfpflicht als Rechtspflicht, die staatlich angeordnet, polizeilich überprüft und durchgesetzt werden müsste, die keine eigene Entscheidungsoption mehr kennt, ist meines Erachtens nicht zielführend oder gerechtfertigt», schreibt NEK-Präsidentin und Rechtsprofessorin Andrea Büchler auf Anfrage. «Mit Blick auf die Impfung bin ich nicht sicher, ob schon alle kommunikativen, zielgruppenspezifischen Massnahmen ausgeschöpft wurden.»
Aber wie steht es um den Schutz von beispielsweise Risikogruppen vor einer Coronainfektion, die ja ebenfalls die körperliche Integrität bedroht? Gesundheitliche Interessen Dritter könnten (im Gegensatz zum Selbstschutz) einen solchen Eingriff zwar rechtfertigen, so Andrea Büchler. Im medizinrechtlichen Kontext sei die Hürde jedoch sehr hoch, es gelte das Prinzip des Informed Consent: Jeder medizinische Eingriff bedarf einer informierten Einwilligung: «Eine Person darf grundsätzlich nicht dazu gezwungen werden, zum Nutzen Dritter medizinische Eingriffe in ihre körperliche Integrität zuzulassen.»