Im Sicherheitswahn
 Der «Krieg gegen den Terror» terrorisiert die EinwanderInnen in den USA. Der Widerstand dagegen steht in antifaschistischer Tradition.

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New York, 2001. Foto: Alex Fuchs, Keystone

Im Sommer 2019 lief in den USA eine Debatte, die erhellend und ermüdend zugleich war, wie so manche Debatte, die ein paar Tage hochtourig ihre Schleifen dreht. Die Frage war: Darf man die Internierungscamps für ImmigrantInnen, von denen es im Land über 200 gibt, Konzentrationslager nennen?

Anlass der Debatte war ein Kommentar der frisch gewählten Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez. «Die Regierung hat an der südlichen Grenze der Vereinigten Staaten Konzentrationslager für ImmigrantInnen eingerichtet, in denen sie völlig unmenschlich behandelt werden und sterben», schrieb sie auf Twitter und verlinkte dazu einen Artikel, in dem mehrere ExpertInnen zum gleichen Urteil kamen. Für die «Masseninhaftierung von ZivilistInnen ohne Gerichtsverfahren» sei dieser Begriff angebracht, sagte Andrea Pitzer, Autorin eines Buchs über die globale Geschichte von Konzentrationslagern. «Etwas kann ein Konzentrationslager sein, ohne Dachau oder Auschwitz zu sein», wurde der Holocaustforscher Waitman Wade Beorn zitiert. Während viele Menschen Ocasio-Cortez für ihre deutlichen Worte dankten, warfen ihr andere – republikanische PolitikerInnen, aber auch jüdische Institutionen – eine Verharmlosung des Holocaust vor. Es war nicht das erste Mal, seit Donald Trump die Präsidentschaft übernommen hatte, dass darüber diskutiert wurde, inwiefern bestimmte Methoden und Rhetoriken der Regierung denen des Faschismus ähneln und ob entsprechende Analogien eher sensibilisieren oder doch von den Grausamkeiten der Gegenwart wegführen.

Serena Adlerstein erinnert sich an das wachsende Unbehagen, mit dem sie die Diskussionen verfolgte. Statt über die Bedeutung eines Begriffs zu reden, wollte die 25-Jährige etwas Konkretes gegen die elenden Zustände unternehmen. Adlerstein lebte damals in Grand Rapids, Michigan, wo sie für Movimiento Cosecha arbeitete, eine Organisation, die sich für die Rechte nicht registrierter ImmigrantInnen einsetzt. Sie wusste also, unter welchen Bedingungen die Menschen in den Lagern eingesperrt sind. Und sie wusste auch, dass dieses Thema normalerweise wenig Beachtung findet. Wenn es eine Möglichkeit geben sollte, politischen Druck zu erzeugen, dann jetzt.

«Was wäre, wenn junge JüdInnen die Gefangenenlager besetzten und stilllegten?», schrieb Adlerstein am 24. Juni 2019 auf Facebook. Der Beitrag traf einen Nerv. Mehrere jüdische AktivistInnen antworteten ihr sofort, sagten, dass sie zu entsprechenden Aktionen bereit seien. Noch am selben Abend schloss sich eine kleine Gruppe telefonisch zusammen. Aus diesen Gesprächen wuchs eine neue Organisation, Never Again Action, die seither mit zivilem Ungehorsam, Community-Organizing und politischer Bildung für ein Ende der amerikanischen «Inhaftierungs- und Abschiebemaschine» kämpft, wie Adlerstein es nennt. «Als JüdInnen tragen wir sowohl die Erinnerung an die Verfolgung unserer Vorfahren als auch die Vehemenz ihres Widerstands in uns», schreibt Never Again auf ihrer Website.

Eine gigantische neue Behörde

Wenn man dem politischen Erbe der Terroranschläge vom 11. September 2001 nachgeht, landet man unweigerlich beim «Krieg gegen den Terror». Es war von Beginn weg ein grenzenloser Krieg, zeitlich wie räumlich, und das mit voller Absicht: In der Unbestimmtheit liess sich jede Massnahme rechtfertigen. Die militärischen Einsätze und Invasionen im Irak, in Afghanistan und Pakistan basierten zu erheblichen Teilen auf Lügen. Weit über eine Million Menschen wurden dabei laut unabhängigen Studien getötet. Die meisten von ihnen waren unschuldige ZivilistInnen. Dass wir von den amerikanischen Kriegsverbrechen wissen, ist auch der Whistleblowerin Chelsea Manning zu verdanken, die der Enthüllungsplattform Wikileaks geheimes Material zukommen liess. Der «Krieg gegen den Terror» wurde jedoch nicht nur im Nahen Osten geführt, sondern auch in Amerika.

Bekannt ist das Gefangenen- und Folterlager in der kubanischen Guantánamo-Bucht, wo mutmassliche TerroristInnen bis heute völkerrechtswidrig gefangen gehalten werden. Als unmittelbare Reaktion auf die Anschläge erliess Präsident George W. Bush ausserdem den Patriot Act, ein Gesetz, durch das die Überwachung der eigenen Bevölkerung systematisiert wurde. Die wohl weitreichendste innenpolitische Massnahme war jedoch die Schaffung einer neuen, gigantischen Behörde: des Department of Homeland Security (DHS). Entstanden ist ein beispielloser Sicherheitsapparat, der auch zwanzig Jahre später immer noch wächst.

Wenn AktivistInnen wie Adlerstein vor «neofaschistischen» Staatsstrukturen warnen, dann meinen sie damit das DHS und die dazugehörigen Behörden. Das Ministerium verantwortet nicht nur die Lager für ImmigrantInnen im Inneren und an der Grenze, es führt auch die Razzien und Abschiebungen durch, deren Zahl seit dem 11. September enorm zugenommen hat. Die Schaffung des DHS war die grösste Umstrukturierung des US-Staatsapparats seit den 1940er Jahren. Insgesamt 22 Bundesbehörden, die bis dahin getrennt voneinander agiert hatten, wurden unter ein gemeinsames Dach gestellt. Rund 170 000 Angestellte waren nun angewiesen, eng zusammenzuarbeiten, um zu verhindern, dass so etwas wie der 11. September noch einmal geschieht. Das DHS sollte das Land sicherer machen, die Bevölkerung vor Terror schützen, das war zumindest das offizielle Ziel. In der Praxis führte die Gründung des DHS im Jahr 2003 dazu, dass sich Millionen von Menschen unsicherer fühlen, und mehr als das: dass sie unsicher sind.

Stützen der Wirtschaft

Insbesondere die dem DHS untergeordnete Behörde Immigration and Customs Enforcement (ICE) hat dafür gesorgt, dass viele MuslimInnen, ImmigrantInnen und andere nichtweisse Menschen in einem Klima der Angst leben. «Die primäre Aufgabe des ICE ist es, Terrorakte zu verhindern, indem Menschen, Geld und Güter, die terroristische und kriminelle Aktivitäten ermöglichen, ins Visier genommen werden», liess die US-Regierung damals verlauten. Im Visier waren aber längst nicht nur Menschen, bei denen eine nachweisbare Terrorgefahr bestand, sondern alle, die ins rassistische Schema des «fremden Bedrohlichen» gepresst wurden: eine Masse, die gross sein musste, um das neue Sicherheitsregime überhaupt zu legitimieren. Während in den ersten Jahren das Bild des «muslimischen Terroristen» bewirtschaftet wurde, verschob sich im Laufe der Zeit der Fokus, und MigrantInnen aus Latein- und Zentralamerika wurden als grösste Gefahr behandelt.

Statt Terror abzuwenden, terrorisiert ICE heute vor allem ImmigrantInnen ohne Papiere. Die BeamtInnen der Behörde warten vor Schulen, bis Eltern ihre Kinder abholen; lauern vor Krankenhäusern und Obdachlosenunterkünften; gehen in Gerichte, um die Leute dort abzufangen. Sie reissen Menschen, die seit Jahrzehnten in den USA sind, aus ihrem Leben, schicken sie ohne Vorbereitung in die Fremde. «Ich weiss nicht, was [ICE] macht, ausser Menschen zu terrorisieren. Ich weiss nicht, was sie tun, ausser in Einwanderervierteln herumzuhängen und an die Türen der Leute zu klopfen und sie von ihren Familien zu trennen», sagt Adlerstein.

Zahlreiche Organisationen wie die American Civil Liberties Union oder Amnesty International haben in den vergangenen Jahren auf die Menschenrechtsverletzungen hingewiesen, die die USA im Namen des «Heimatschutzes» begehen. Immer mehr AktivistInnen fordern einen Rückbau des Apparats, der Slogan #AbolishICE (Schafft ICE ab!) hat es in kürzester Zeit aus der Nische in den Mainstream geschafft. Auch immer mehr PolitikerInnen der Demokraten verlangen, dass die Behörde, deren Gewerkschaft offiziell Trump unterstützte, abgeschafft wird.

Während in den Jahren nach dem 11. September 2001 wenig Raum für linken Widerstand blieb und jeder radikale Protest im Keim erstickt wurde, gibt es mittlerweile eine grössere antifaschistische Bewegung, die sich dem erstarkten Rassismus und Nationalismus entgegenstellt. Für viele war Trump die Erinnerung daran, wie schnell eine nominell liberale Demokratie ins Extreme rutschen kann. Oder anders formuliert: wie viel Unrecht in diesem Staat bereits verankert ist.

So schockierend die Bilder von Kindern in Käfigen und die Geschichten von getrennten Familien waren, so viel grundlegender sind die Probleme des US-Immigrationssystems. Tausende Geflüchtete sind in den letzten Jahrzehnten beim Versuch, durch die Wüste ins Landesinnere der USA zu kommen, gestorben. Menschen bleiben oft jahrelang inhaftiert, ehe sie abgeschoben werden. Wie inhuman das Ganze ist, zeigt das Schicksal der rund elf Millionen papierlosen ImmigrantInnen, die dauerhaft in den USA leben. Die meisten von ihnen arbeiten, zahlen Steuern, haben Familie und Freundeskreise. Sie sind feste Stützen der Ökonomie, haben aber keinerlei rechtlichen Schutz, was bedeutet, dass sie theoretisch jeden Moment deportiert werden könnten. Es ist kapitalistische Logik in Reinform: Ihre Arbeit ist unverzichtbar, ihr Leben bleibt ungeschützt.

Frühe rassistische Prägung

Serena Adlerstein war in der zweiten oder dritten Klasse, als die Flugzeuge ins World Trade Center flogen, so genau weiss sie es nicht mehr. Zu jung jedenfalls, um diese Tragödie im Detail und Umfang zu verstehen, aber alt genug, um nach und nach zu realisieren, dass sich etwas Grundlegendes verschoben hatte. Adlerstein gehört zu einer Generation, die die Welt nur «post 9/11» kennt. Durch den «Krieg gegen den Terror» wurde definiert, wer die «StaatsfeindInnen» sind, welchen Preis «Sicherheit» hat und dass «Wachsamkeit» zu den Pflichten einer guten US-Bürgerin gehören soll. «Uns wurde beigebracht, dass die Gefahren einzig von aussen ins Land kommen», so Adlerstein. Propaganda, die längst nicht nur von der Politik transportiert wurde und wird, sondern auch von den Medien und der TV-Kultur. Adlerstein sagt, sie habe ihre «verinnerlichte Islamophobie» zuerst abbauen müssen. Wenn sie über sich und ihre Politisierung spricht, spürt man eine selbstkritische Um- und Vorsicht, ein uneigennütziges Verantwortungsbewusstsein. Man kann sich kaum vorstellen, dass jemand, der so reflektiert ist, «Angst vor dem Fremden» hatte, wie sie selbst sagt. Aber schon diese Idee verkennt ja, wie Rassismus sich festsetzt und reproduziert, subtil und aggressiv, vor allem im Amerika nach 9/11.

Prägend war für Adlerstein auch das Aufwachsen in einer jüdischen Familie und Community. Von ihrem Grossvater, der 1938 nach den Novemberpogromen aus Deutschland geflohen war, wusste sie, dass er den Holocaust als Warnung für die Politik der Gegenwart betrachtete. «Glaubt nicht, dass so etwas nicht wieder passieren kann», sagte er zu seiner Tochter, Adlersteins Mutter. Ein Satz, den sie bis heute mit sich trägt. Die Formel «Never Again» hörte Adlerstein regelmässig in der Sonntagsschule: Nie wieder dürfe sich so etwas wie der Holocaust auch nur im Ansatz wiederholen. Als Adlerstein und die anderen jüdischen AktivistInnen im Sommer 2019 anfingen, sich zu organisieren, lag der Name auf der Hand. «Bei Never Again geht es nicht nur darum, sich daran zu erinnern, wie der Holocaust endete. Es geht auch darum, wie er begann, mit einer schrittweisen rechtlichen Ausgrenzung und staatlich geförderten Entmenschlichung», sagte Aaron Regunberg, ein Aktivist von Never Again, bei einer Protestaktion.

Man kann darüber streiten, inwiefern es sinnvoll ist, das trumpsche Amerika mit den Anfängen von Nazideutschland zu vergleichen, und man kann gut begründet zu verschiedenen Schlüssen kommen. Wichtiger als die semantische und historische Debatte ist das, was Never Again von Anfang an vorgelebt hat: Antifaschistische Arbeit ist nicht abstrakt, sondern konkret; sie orientiert sich nicht an theoretischen Kriterien, sondern setzt ganz praktisch an den Bedingungen der Gegenwart an.

Die erste Aktion von Never Again fand nur sechs Tage nach Adlersteins Facebook-Post statt. Rund 200 AktivistInnen versammelten sich am 30. Juni 2019 vor einer Haftanstalt für ImmigrantInnen in Elizabeth, New Jersey, um die Eingänge zu blockieren. 36 Leute wurden an diesem Tag festgenommen. Das grosse Medienecho sorgte dafür, dass sich in den Wochen darauf Tausende Menschen anschlossen. Proteste folgten in Boston, San Francisco, Philadelphia, Los Angeles und anderen Städten, es waren insgesamt vierzig Aktionen im Laufe des Sommers. Sowohl die Zustände in den Camps als auch die Organisation ICE rückten sie ins Licht. Der vielleicht grösste Erfolg, sagt Adlerstein, sei es, dass nach der ersten Mobilisierung die Energie nicht verpuffte, sondern dauerhafte Strukturen entstehen konnten. Never Again besteht heute aus rund fünfzehn Ortsgruppen, verteilt aufs ganze Land. Zwischen 100 und 150 OrganizerInnen sind permanent aktiv, sie planen die Aktionen, koordinieren sich mit anderen Gruppen und versuchen, Vertrauen in den ImmigrantInnen-Communitys aufzubauen. «ICE ist überall», so Adlerstein, «also müssen wir es auch sein.»

Für Adlerstein hat sich durch Never Again auch ihr eigenes Verständnis als politische Akteurin verändert. Bei ihrer vorherigen Arbeit mit Organisationen wie Movimiento Cosecha fühlte sie sich in erster Linie als «white ally», als weisse Verbündete im Kampf gegen den weissen Nationalismus. Ihre Motivation sei zunächst intellektueller Natur gewesen, sagt sie. Durch die zwischenmenschlichen Beziehungen habe sich dann auch die Verantwortung vertieft. Bei Never Again spürte Adlerstein jedoch von Beginn an, dass es auch um sie geht, um ihre eigene Geschichte und Kultur. «Ich habe mehr und mehr über die jüdische sozialistische Tradition gelernt», sagt Adlerstein, «und dass das Judentum und der Zionismus nicht das Gleiche sind.» So habe sich ein Raum für sie geöffnet, der ihr ein anderes Jüdischsein ermöglichte.

Budget gibt Abschiebungen vor

Die politische Landschaft hat sich seit der Gründung von Never Again im Juni 2019 verändert. Die rechtsradikale Bande um Trump sitzt nicht mehr im Weissen Haus. Neben dem Repräsentantenhaus ist mittlerweile auch der Senat, also die zweite parlamentarische Kammer, in der Hand der Demokraten. Die Präsidentschaft Joe Bidens ist vergleichsweise ruhig und moderat, humaner. Und dennoch lässt sich festhalten, dass auch Bidens Regierung kaum etwas dafür tut, das Immigrationssystem grundsätzlich umzugestalten. Das Department of Homeland Security bleibt ein monströser Apparat, der heute rund 240 000 Angestellte hat und über ein Budget von über 52 Milliarden Dollar verfügt. Dem Finanzplan zufolge sind für 2022 bereits 167 420 Abschiebungen vorgesehen. Ein Rückbau von ICE ist nicht geplant. Unter dem Strich scheint Biden die Abschiebepolitik von Obama fortzusetzen, dem Expräsidenten, der sich das Attribut «Deporter in Chief» verdiente. Es ist eine Politik, in der die verstörenden Bilder aus der Trump-Ära vermieden werden sollen, in der ImmigrantInnen aber weiter massenhaft ohne Gerichtsverfahren inhaftiert bleiben und in noch grösserer Zahl abgeschoben werden. Im Juli 2021 waren rund 27 200 Menschen in ICE-Gewahrsam. Eine Steigerung um 90 Prozent, seit Biden sein Amt angetreten hat. Amnesty International berichtete kürzlich, dass auch die aktuelle Regierung Kinder ohne Begleitung nach Mexiko abschiebt. Grosse Schlagzeilen machen solche Enthüllungen allerdings nicht. «Die neue Regierung ist gut in PR», sagt Adlerstein.

Systematische Menschenrechtsverletzungen

Als Vizepräsidentin Kamala Harris im Juni 2021 Guatemala besuchte, verteidigte sie das Grenzregime und sagte den BewohnerInnen des von Armut und Gewalt geprägten Landes: «Kommen Sie nicht!» Adlerstein war überrascht von der Härte ihrer Worte. «Es zeigt sich, wie viel Einfluss die Rechte in den USA hat», sagt sie. Für Never Again wird es auch in Zukunft darum gehen, die Zustände in den Camps und die Praktiken der Behörden blosszustellen; zu zeigen, dass das Thema dringend bleibt. «Wir wollen, dass die liberale Öffentlichkeit erkennt, wie die Abschiebemaschine funktioniert», sagt Adlerstein. «Dafür stellen wir uns mit unseren Körpern zwischen ICE und die betroffenen Menschen.»

Never Again ist nicht alleine. Zahlreiche andere Organisationen setzen sich für ein radikal anderes Immigrationssystem ein. Gruppen wie Detention Watch Network, Jews for Racial and Economic Justice, No More Deaths, New Sanctuary Movement oder Immigrant Defense Project versuchen, Druck auf die Regierung zu machen, um eine «Rückkehr zur Normalität» zu verhindern. Immer mehr Linke denken strategisch über Macht nach, darüber, wie man effektiv das System des «racial capitalism» bekämpft. Es ist ein schmaler Grat, sagt Adlerstein, weil man einerseits einer liberalen Regierung gegenübersteht und andererseits befürchten muss, dass schon bald wieder jemand wie Trump (oder Trump selbst) an der Macht ist.

Opposition ist in den vergangenen Jahren nicht nur ausserhalb des Wahlsystems gewachsen. Abgeordnete wie Ocasio-Cortez, Ilhan Omar und Pramila Jayapal arbeiten daran, progressive Resolutionen voranzubringen. Zu den dringendsten Forderungen gehört die Wiedervereinigung getrennter Familien. Darüber hinaus sollen profitorientierte Gefangenenlager und Grenzpolizei-Checkpoints im Inland abgeschafft werden. Ganz oben steht ein «pathway to citizenship» für alle undokumentierten ImmigrantInnen, eine konkrete Aussicht auf eine Staatsbürgerschaft also. Biden hatte signalisiert, dass er eine entsprechende Reform unterstützt. Passiert ist bislang jedoch wenig.

Das amerikanische Immigrationssystem – wobei jemand wie Adlerstein schon diesen Begriff infrage stellt angesichts der Tatsache, dass dieses System vielmehr Abschiebungen statt Einwanderung regelt – ist nicht erst seit der Gründung des Department of Homeland Security inhuman. Eine wesentliche Rolle spielte etwa auch Bill Clintons Reform von 1996, durch die ImmigrantInnen umfassend kriminalisiert wurden. Doch erst nach den Anschlägen von 2001 entstand ein System, das Menschenrechtsverletzungen vollends systematisierte.

Fast in Vergessenheit geraten ist dabei, dass auch in Guantánamo – dem wohl bekanntesten Symbol für Post-9/11-Unrecht – bis heute Menschen eingesperrt sind, ohne je angeklagt worden zu sein. Knapp vierzig Gefangene sind es. Präsident Biden hat angekündigt, das Militärgefängnis bis zum Ende seiner Amtszeit schliessen zu wollen. Doch dieses Vorhaben gehörte schon zu Obamas Versprechen im ersten Wahlkampf. Fast fünfzehn Jahre ist das her.