Kost und Logis: Und sie grinsen uns an

Nr. 38 –

Bettina Dyttrich hilft auf der Alp aus

Diesen Sommer bin ich froh um das Dach. Käse wenden, rein ins Salzbad, raus aus dem Salzbad; schnelle, heisse Feuer machen, um die Milch im Kessi auf die exakte Temperatur zu wärmen. Und vor allem abwaschen, in zwei Wochen mehr abwaschen als im ganzen Leben vorher. Während es draussen schifft, dass man langsam Angst bekommt, die Berge könnten ins Tal rutschen.

«Fokus. Immer und überall Fokus», sagt eine Stimme in meinem Kopf. Irgendwann merke ich, es ist Erika Bürgisser aus dem «Bestatter». Ausgerechnet. In meinem Traum lernt ein Gitzi Ski fahren, und als ich aufwache, ist der Kleiderhaufen auf dem Stuhl zur Geiss geworden. Überarbeitung ist auch eine Droge. Aber ist sie auch gut?

Am besten z’Alp gehen können Leute, die gern sehr viel arbeiten, gern gar nicht arbeiten, beides geniessen und ohne Übergang vom einen ins andere wechseln können. Ich übe.

Auf Mutterkuh- und Rinderalpen sind die Tiere weitläufig eingezäunt; die HirtInnen suchen sie jeden Tag, um zu schauen, wie es ihnen geht. Auf manchen Ziegen- und Schafalpen wie hier ziehen sie hingegen den ganzen Tag mit der Herde herum, quer über den Berg und bis hinauf zu den Geröllhalden. Sie verständigen sich über Funk und haben Border Collies dabei, die bei der Arbeit helfen. Ich ahne erst langsam, wie viel Erfahrung, Wissen und Vertrauen das braucht. Und wie viele Nerven, wenn ein Platzregen kommt und 200 Geissen panisch nach Hause rennen, weil sie Nasswerden noch mehr hassen als den Stall. Dann fällt auch noch der Strom aus, und wir melken mit Stirnlampen im Mist, während sich die Tiere um uns herum um die besten Plätze prügeln.

Die HirtInnen kommen schon lange aus der Deutschschweiz. Sie haben ihre eigenen Flurnamen, sie müssen ja dauernd darüber reden, wo sie waren, wo sie hingehen, wo die Geissen sind. Vor allem die Geissen, die nicht mehr zurückkommen. Sie reden von der Arena, dem Flugzeug, den drei Steinen. Als ich die Steine zum ersten Mal sehe, weiss ich sofort, das sind sie. Jeder einzelne ist so gross wie ein Haus.

Ich wasche ab. Vom Hüten habe ich kaum eine Ahnung. Wenn ich doch einmal mitgehe, merke ich, wie sich das Raumgefühl verändert – eine Interaktion mit dem Berg, die ganz andere Dimensionen hat, als wenn du nur wanderst. Der Raum wird riesig. Als wäre der Nomadismus eine Erinnerung, die wir ganz schnell wieder hervorholen können.

Seit 10 000 Jahren laufen wir ihnen nach, mischen uns in ihre Genetik ein, versuchen den Weg der Herde zu lenken. Mit nicht sehr viel Erfolg. Wir manipulieren sie, dafür bestimmen sie unseren Tagesablauf. Und sie grinsen uns an, reiben ihre Köpfe an unseren Schultern und scheinen uns nicht zu hassen. Aber ich weiss, andere sehen das anders.

Solange es Hirten gibt, gibt es Hoffnung, hat der französische Hirt und Anarchist Pierre Mélet geschrieben. Das ist pathetisch, klar. Aber ich weiss schon, was er meint.

Bettina Dyttrich ist meistens WOZ-Redaktorin.