Soziologischer Atlas: So farbig, dass die Bruchstellen ins Auge fallen

Nr. 38 –

Statistiken lügen meist. Aber gelegentlich können sie auch die Ansprüche benachteiligter Minderheiten legitimieren. 1900 schuf ein Team der Universität Atlanta einen Atlas zur Situation der Schwarzen in den USA – mit frappierenden Infografiken.

  • Wie eine gespannte Feder: Verhältnis der Schwarzen Stadt- und Landbevölkerung in Georgia.
  • Damit die Last der Geschichte nicht vergessen geht: Anteil befreiter SklavInnen an der Schwarzen Bevölkerung in den USA von 1790 bis 1870.
  • In Savannah (gelb) steigt die Zahl der HausbesitzerInnen und der Wert ihrer Häuser; in Atlanta (blau) steigt zwar der Wert, aber die Zahl der BesitzerInnen stagniert seit 1890.
  • Die Grafik zum Zivilstand zeigt: Schwarze Frauen heiraten früher und sind früher verwitwet als Schwarze Männer.
  • Fortschritt in ungeahnter Schönheit: Zuwachs an Landbesitz in Georgia, dargestellt in konzentrischen Kreisen.

Manche sehen aus wie konstruktivistische Gemälde aus den frühen Jahren der Sowjetunion. Dabei sind sie einiges älter, diese visualisierten Statistiken aus den USA. Präsentiert wurden sie 1900 im US-Pavillon der Weltausstellung in Paris, in der «American Negro Exhibit». Die war damals eine Sensation. Konzipiert hatte sie W. E. B. Du Bois. Der damals 32-jährige Soziologiedozent wollte den USA und der Welt demonstrieren, zu welchen Leistungen die «Negroes» fähig seien, wie weit sie es in der weissen Mehrheitsgesellschaft schon gebracht hatten, welche Hindernisse ihnen aber immer noch in den Weg gelegt wurden. Als Motto stellte er seiner soziologischen Studie deshalb den unmissverständlichen Satz voran: «The problem of the 20th century is the problem of the color-line», also die rassistische Segregation.

Entstanden sind dabei originelle und eigentümliche Diagramme. Das gilt bereits für eine einfache, grundlegende Statistik, die das quantitative Verhältnis von SklavInnen und befreiten AfroamerikanerInnen von 1790 bis 1870 zeigt. Eine herkömmliche Darstellung hätte die – formale – Sklavenbefreiung nach dem Bürgerkrieg wohl triumphalistisch in den Himmel ragen lassen. Du Bois und sein Team von der Atlanta University in Georgia stellen sie umgekehrt dar. Ja, auch hier wird der Anteil der ab 1868 Befreiten in Grün abgebildet, als Hoffnung. Doch diese Befreiung ragt vorerst nur als dünne Spitze in die Gegenwart, während der dominierende mächtige schwarze Block die weiterhin lastende Geschichte der Sklavenhaltung nicht vergessen lässt.

Wie ein Uhrwerk

Andere Diagramme sind visuell noch origineller. Eines bildet das Verhältnis von ländlicher und urbaner Schwarzer Bevölkerung ab. Es zeigt eine Art gespannte Feder wie aus einem Uhrwerk. In einem Balkendiagramm wäre der Balken für die Landbevölkerung sechsmal so lang wie derjenige für die urbane Bevölkerung. Die von Du Bois präsentierte Grafik sagt nicht auf den ersten Blick, dass sechsmal so viele Schwarze auf dem Land wie in der Stadt leben. Sie mag also zahlenmässig nicht so genau erscheinen, obwohl die unterschiedlichen Längen der Linien ebenso genau ausgemessen sind wie die Balken einer herkömmlichen Grafik – aber visuell und emotional wirkt sie viel stärker als jedes brave Balkengerüst. Beim zweiten Blick mag sie auch an einen Galgen erinnern, an Lynchjustiz, wie sie vor allem in ländlichen Gegenden verübt wurde.

Natürlich war diese «American Negro Exhibit» für den Pavillon der USA ursprünglich nicht vorgesehen – die juristische Emanzipation der SklavInnen lag erst ein paar Jahrzehnte zurück, und die ökonomische und soziokulturelle liess auf sich warten. Aber ein Bibliothekar an der Library of Congress und ein Zeitungsredaktor überzeugten Booker T. Washington (1856–1915), den führenden Schwarzen Intellektuellen, von der Idee. Vier Monate vor Beginn der Pariser Weltausstellung beschloss der US-Kongress einen Pauschalbetrag von 15 000 Dollar für eine Ausstellung «über den Fortschritt der schwarzen Rasse in den USA bezüglich Bildung und Beschäftigungslage». W. E. B. Du Bois übernahm die Gesamtleitung. Zusammen mit StudentInnen der Atlanta University sammelte er soziologische Daten zu den Lebensumständen der Schwarzen. In der US-Volkszählung hatte man erst 1870 begonnen, die AfroamerikanerInnen zu erfassen, die zuvor zum beweglichen Vermögen gezählt worden waren.

Die Diagramme konzentrierten sich auf den Bundesstaat Georgia, weil dieser damals die grösste Schwarze Bevölkerung in den USA aufwies. Hergestellt wurden die Grafiken mit einfachsten Mitteln; die Beschriftungen mussten teilweise von Hand ergänzt werden, da zum Beispiel kein typografisch passendes Prozentzeichen vorlag. Einige der Infografiken kommen auf den ersten Blick durchaus spielerisch daher, etwa eine Karte zum Landbesitz, nach kleineren Bezirken in Georgia gegliedert. Mangels Vergleichsdaten – etwa zum Landbesitz von Weissen oder zur soziografischen Gliederung des Bundesstaats – lassen sich daraus kaum weitergehende Schlüsse ziehen; immerhin wird der bunte Flickenteppich des Besitzes ästhetisch ansprechend abgebildet.

Zusätzlich erläutert wird diese Karte allerdings durch eine weitere Grafik, die den Wert des Landbesitzes von Schwarzen im Lauf der vergangenen dreissig Jahre zusammenfasst. Da wird dessen Zuwachs sofort sinnfällig, durch konzentrisch angeordnete Kreise, die sukzessive grösser werden. Die Platzierung der Zahlen in Pfeilen von den zeitlich definierten Kreisen her verleiht dem Ganzen eine ungeahnte Raffinesse und Schönheit.

Bestechend anschaulich

Eine andere Grafik vergleicht die Zahl afroamerikanischer Hausbesitzer sowie den Wert von deren Häusern in den Städten Savannah und Atlanta. Die Anzahl der HausbesitzerInnen und der Wert ihrer Häuser werden hier über einen Zeitraum von zwanzig Jahren in eine ätherisch luftige, geradezu berückende Form verwoben. Komplex ist auch eine Grafik zum zivilrechtlichen Status. Auf einer ersten Ebene wird sie in Frauen und Männer aufgegliedert; danach folgen die drei Zivilstände «alleinstehend», «verheiratet», «verwitwet»; und schliesslich die nach Jahrzehnten gegliederten Alterskohorten. Die verschiedenen Farben bilden Flächen, und diese lassen auf den ersten Blick erahnen und machen auf den zweiten Blick deutlich: Frauen heiraten früher und sind früher und häufiger verwitwet. Auf den dritten Blick wird das verfeinert: Mit 20 Jahren ist schon ein Sechstel der Frauen verheiratet, zwischen 55 und 65 Jahren sind beinahe die Hälfte und über 65 Jahre beinahe zwei Drittel verwitwet. Bei den Männern sind es in der gleichen Altersstufe nur zwanzig Prozent. Darin steckt die Tatsache, dass Männer im Durchschnitt weniger lang als Frauen lebten. Doch diese nicht gerade unerwartete Aussage bekommt durch die differenzierte Darstellung neue Anschaulichkeit.

Was diese Grafik nicht zeigen kann, ist die Tatsache, dass Schwarze Männer früher starben als weisse. Allerdings war die ganze Ausstellung durchaus integrationistisch gedacht, als Dokumentation und Beitrag zur Integration. W. E. B. Du Bois setzte seine Hoffnungen zu diesem Zeitpunkt auf die sich herausbildende Schwarze Mittelklasse, die den Vorsprung des weissen Mittelstands aufholen und den ihr gebührenden Platz in der Gesellschaft einnehmen sollte. Die Präsentation in Paris war in diesem Sinne zugleich ein Mittel zur Selbstermächtigung: Du Bois verstand sie «als eine ehrliche, schnörkellose Darstellung einer kleinen Nation von Menschen, die ihr Leben und ihre Entwicklung dokumentiert, ohne sich zu rechtfertigen oder etwas zu beschönigen, und die vor allem von diesen Menschen selbst gemacht worden ist». Dass die «Negroes» zur amerikanischen Gesellschaft gehörten, stand für ihn ausser Frage, zugleich betonte er allerdings die Existenz einer eigenständigen «black nation» innerhalb der USA.

Gebildeter als russische Bauern

Entsprechend setzte man in einigen Darstellungen die Zahl der Schwarzen in den USA explizit in Beziehung mit der gesamten Bevölkerungszahl anderer Länder. So wurde augenfällig, dass die «black nation» in den USA mehr Menschen umfasste als Staaten wie Belgien oder die Niederlande, Schweden oder Australien – als Vergleich taucht im Übrigen hier auch die Schweiz auf. Zudem wurden bestimmte soziale Zustände im Bundesstaat Georgia mit denen in Ländern wie Frankreich und Deutschland verglichen. Das unterstrich den Anspruch, dass die Schwarze Bevölkerung zum Beispiel bezüglich Bildung grosse Fortschritte gemacht hatte und in dieser Hinsicht den Vergleich mit anderen, weissen Bevölkerungen nicht zu scheuen brauchte; ja, eine Grafik zeigt, dass der Analphabetismus bei den Schwarzen in den USA weniger verbreitet war als etwa in Russland oder Serbien.

Einzelne Diagramme ziehen auch Vergleiche mit der weissen Bevölkerung in den USA: In einer formal bemerkenswerten Grafik zur Beschäftigungssituation wird deutlich, dass Schwarze überproportional in der Landwirtschaft und in Dienstleistungsbereichen arbeiten, während sie in höher qualifizierten Berufen deutlich untervertreten sind. In einer spezifischeren Grafik aus dem eher ländlichen Georgia lässt sich angesichts der in beiden Gruppen ähnlichen Aufteilung in Hand- und Kopfarbeit allerdings erahnen, dass nicht nur die Hautfarbe, sondern auch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse eine Rolle spielte.

Der Zeit voraus

Präsentiert wurden diese grafischen Karten an der Pariser Weltausstellung in einem als Bibliothek konzipierten Raum, wo auch zahlreiche Fotografien hingen: Porträts berühmter Einzelpersonen, aber auch symbolkräftige Gruppenbilder. Sie zeigten etwa junge Schwarze Frauen selbstbewusst auf den Stufen einer Universität oder ZahnarztstudentInnen bei der Arbeit. Dazu kam eine «Library of Colored Authors». Rund 200 Titel waren dafür gesammelt worden, was etwa die «New York Times» erstaunt zur Kenntnis nahm.

Die Pariser Weltausstellung wurde von mindestens vierzig Millionen Menschen besucht; die «American Negro Exhibit» erregte einiges Aufsehen, wurde mehrfach ausgezeichnet und später in verschiedenen Städten der USA gezeigt. In der Geschichte statistischer Darstellungen gibt es einige frühere bemerkenswerte Versuche, insbesondere Charles Joseph Minards erstaunliche Grafik von 1869 zum Russlandfeldzug von Napoleon. In ihrer formalen Konsequenz jedoch waren die Infografiken, die das Team von Du Bois entwickelte, damals einmalig und ihrer Zeit voraus – ebenso in ihrer Betonung der Color Line, der rassistischen Segregation, als zentraler Bruchstelle des 20. Jahrhunderts.

Den integrationistischen Ansatz indes beurteilte Du Bois später sehr skeptisch. Er näherte sich der sozialistischen Bewegung an, bemühte sich um eine weltweite panafrikanische Verknüpfung und siedelte 1961 im hohen Alter aus den USA nach Ghana über. Dort starb er zwei Jahre später, einen Tag vor dem von Martin Luther King angeführten «Marsch auf Washington» der US-Bürgerrechtsbewegung.

Whitney Battle-Baptiste, Britt Rusert (Hg.): «W. E. B. Du Bois’s Data Portraits. Visualizing Black America. The Color Line at the Turn of the Twentieth Century». Princeton Architectural Press. New York 2018. 144 Seiten. 40 Franken.

W. E. B. Du Bois

Integrationist, Sozialist, Panafrikaner: W. E. B. Du Bois (1868–1963) prägte in seinem langen Leben vielfältige politische Bewegungen. Geboren in Massachusetts, promovierte er 1895 als erster Afroamerikaner in Harvard und profilierte sich dann als unermüdlicher Soziologe und Publizist. 1909 gehörte er zu den GründerInnen der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP). Nach dem Zweiten Weltkrieg betätigte er sich in der internationalen Friedensbewegung. Er starb mit 95 Jahren in Ghana.