Kunst: Im Warteraum für das Neue
In welcher Welt möchten wir leben? Diese Frage werfen zwei Ausstellungen in Zürich auf. Es geht um Kategorien wie Geschlecht und Identität – und wie diese unsere Welt formen.
Wir betreten einen ruhigen Raum, der Boden ist hellrosa gestrichen, an den Wänden reiht sich ein Bildschirm an den anderen. Vor einem bleiben wir stehen, setzen die Kopfhörer auf, tauchen ein.
Die Videoarbeiten, die aktuell im Zürcher Kunstraum Last Tango zu sehen sind, führen uns die Vielfalt jener Identitäten und Lebensrealitäten vor Augen, die in einer patriarchal geprägten, heteronormativen Gesellschaft als «queer» gelten: als schräg, als nicht der Norm entsprechend. Damit sind etwa Personen gemeint, die nicht heterosexuell sind, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Die Ausstellung «Camp Fires» gibt einen vielstimmigen Einblick in diese Lebensrealitäten, er ist leicht und spielerisch, zugleich politisch. Noch heute gilt die eigene Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung nicht als unerheblich oder privat, sondern als öffentliches Anliegen, das debattiert wird – wie zuletzt im Vorfeld der Abstimmung über die Ehe für alle.
Vamp mit Spiegelmaske
Dieser politische Charakter wird im «Last Tango» deutlich, wenn die Diskriminierungserfahrungen queerer Menschen thematisiert werden, die nicht selten mit psychischer oder physischer Gewalt einhergehen. Mit voller Wucht tritt dies etwa in «American Reflexxx» (2015) zutage, einer dokumentarisch angelegten Videoarbeit von Alli Coates. Darin schreitet die Performerin Signe Pierce in einem hautengen Kleid und neongelben Pumps durch das Vergnügungsviertel von Myrtle Beach in South Carolina. Sie trägt eine nach aussen verspiegelte Maske, die von ihrem platinblonden Haar umrahmt wird. Signe Pierce verkörpert in diesem Video den Inbegriff der hypersexualisierten Frau: Sie ist blond und sexy, läuft stumm durch die Strassen, gelegentlich bleibt sie stehen, um lasziv zu posieren.
In der Folge treten in «American Reflexxx» die Reaktionen der Passant:innen in den Fokus, die sich von der Performerin spürbar provoziert fühlen. Nicht wissend, dass es sich dabei um eine künstlerische Inszenierung handelt, die gerade aufgezeichnet wird, beginnen sie, unverblümt ihre Irritation zu äussern, kommentieren den Körper von Signe Pierce oder stellen infrage, ob sie tatsächlich eine Frau sei: Sind die Schultern nicht etwas zu breit, ist der Gang nicht etwas zu männlich? Das maskierte Gesicht der Performerin, ihre ungewisse Identität, rufen Wut und gar physische Gewalt hervor: Signe Pierce wird beleidigt, beschimpft und zu Boden geschubst. Frauen- und Transfeindlichkeit gehen in diesem verstörenden Szenario ineinander über.
Wenn Gewalt zum Spektakel wird
Das Video wurde bereits 2015 auf Youtube geteilt und seitdem über 1,7 Millionen Mal aufgerufen. Alli Coates und Signe Pierce knüpfen damit an die Strategien des Netzwerkfeminismus an: Als Aktivist:innen nutzen sie die sozialen Netzwerke, um Ungerechtigkeiten und Diskriminierung sichtbar zu machen. Entsprechend kann «American Reflexxx» als Aufruf gegen sexualisierte Gewalt verstanden werden.
Dass einige Passant:innen ihrerseits das Ereignis mit ihren Smartphones aufnahmen, rückt aber auch die Kehrseite viraler Inhalte in den Blick: Wie Gewalt zum Spektakel wird, das aus sicherer Distanz betrachtet und aufgezeichnet werden kann. Gleichzeitig sind die sozialen Netzwerke auch jene Orte, in denen stereotype Schönheitsideale verbreitet und die Grenzen zwischen Fremd- und Selbstzuschreibung verwischt werden.
Eine explizit politische Botschaft hat auch die Videoarbeit von Ivy Monteiro. In «Guaca Polla and the Suitcase Sisters in Pride Issa Riot» (2020) tanzen die Performer:innen durch eine verlassene Fabrik, an deren Wänden in grossen Lettern «Black Queer Lives Matter» oder «Pride is a Riot» geschrieben steht. Mit diesen Bewegungsparolen ruft Ivy Monteiro in Erinnerung, dass es sich bei Black Lives Matter und bei der Gay Pride auch um kapitalismuskritische Widerstandskämpfe handelt. Heute gibt es aber auch Pinkwashing: Davon spricht man, wenn Grosskonzerne und andere Organisationen sich lediglich aus werbetechnischen Überlegungen mit der queeren, antirassistischen oder feministischen Bewegung solidarisch zeigen. Von der kapitalistischen Logik vereinnahmt, verkümmern diese Bewegungen zu blossen Trends und Marketingstrategien.
Dass es sich bei «Camp Fires» um ein vielstimmiges Narrativ handelt, wird aber nicht nur anhand der künstlerischen Arbeiten deutlich, sondern auch im dezentralen Ausstellungskonzept. So sind einige der achtzehn Videoarbeiten auch im Zürcher Tanzhaus zu sehen – und in der Shedhalle auf dem Areal der Roten Fabrik. Dort sind sie Teil der Ausstellung «Extra Worlding», die sich der Frage widmet, wie Künstler:innen die eigene Lebensrealität in ihrer Praxis verarbeiten und welche Welten daraus entstehen.
Ich ist eine Boyband
Ein Beispiel dafür ist die Videoarbeit «It’s Always You» (2021), die gleich am Eingang auf zwei Bildschirmen zu sehen ist. Darin schlüpft Sin Wai Kin in die Rolle von vier Mitgliedern einer fiktiven Boyband und stellt stereotype Vorstellungen von Männlichkeit infrage: Die Idee, dass ein Mann stark und muskulös zu sein hat, parodiert Sin Wai Kin mit einem Kostüm, das einem durchtrainierten Bauch ähnelt.
So zeigt sich, wie sehr Geschlecht eine von gesellschaftlichen Normen geprägte Performance ist – ein Thema, dem sich etwa die Sozialwissenschaftlerin Gudrun-Axeli Knapp widmete. Diese hat Geschlecht schon in den 1980er Jahren als soziale Kategorie mit «Platzhalterfunktion» definiert: Menschen werden aufgrund ihres vermeintlichen Geschlechts gewisse Eigenschaften und Plätze in der Gesellschaft zugewiesen. Entsprechend kreiert Sin Wai Kin eine Welt, die eng mit jener Realität verknüpft ist, die weiterhin nur selten von einer binären Vorstellung von Geschlecht abweicht.
Landschaften aus Elektroschrott
Klar wird dabei auch: Individuelle Identitäten formieren sich nie ausserhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhangs. Wie man das eigene Selbstverständnis immer auch als Teil eines globalen Diskurses verstehen kann, zeigt in der Shedhalle nachdrücklich Shu Lea Cheang: In ihrer computergenerierten Videoarbeit «UKI Virus Rising» (2018), die auf eine grossformatige Leinwand und auf den Boden projiziert wird, schafft sie dystopische Landschaften aus Elektroschrott. Ihre Dystopie ist jedoch nicht in einer fernen Zukunft angesiedelt, sondern in der ganz konkreten Gegenwart. Aktuell werden etwa in Nigeria oder Ghana alte Rechner und Prozessoren aus westlichen Ländern angeliefert, um dort rezykliert zu werden. In diesem Fall bedeutet das: Edelmetalle oder wiederverwertbare Bestandteile werden entnommen, der Rest wird verbrannt. So wirft die Künstlerin ein Schlaglicht auf koloniale Strukturen und darauf, wie diese bis heute weiterwirken.
Gleichzeitig thematisiert Shu Lea Cheang unser Verhältnis zu dem, was wir «Natur» nennen, wie auch zur fortschreitenden Technologisierung – etwa mit überdimensionierten Mikrochips, die in «UKI Virus Rising» zu grossflächigen Städten verbaut werden. Und in einer nächsten Szene verwandelt die Künstlerin einen Menschen in einen Cyborg, indem sie ihn mit einem dritten, mechanischen Arm ausstattet. So dystopisch diese Selbstoptimierung erscheinen mag: Auch sie ist klar im neoliberalen Hier und Jetzt verortet.
Tauchen wir aus diesen Welten wieder auf, stellt sich unweigerlich die Frage, in welcher Welt wir selber leben möchten – und wer überhaupt das Privileg dieser Wahl hat.
«Camp Fires. The Body as a Queer Stage» ist noch bis 23. Oktober 2021 im Zürcher Kunstraum Last Tango zu sehen. www.lasttango.info «Extra Worlding» in der Shedhalle Zürich dauert noch bis 31. Oktober 2021. www.shedhalle.ch