Digitale Kunst: Visionen gegen Big Tech

Nr. 37 –

Das Haus der Elektronischen Künste in Basel zeigt in einer anregenden Ausstellung, wie sich digitale Werkzeuge zwecks kollektiver Selbstermächtigung umfunktionieren lassen.

Kunstwerk «Genital (*) Panic» von Mary Maggic
Kritische Aufklärung vom gynäkologischen Stuhl aus: «Genital (*) Panic» von Mary Maggic. Foto: Luca Guadagnini

Lassen wir uns gerade zu Sklav:innen der grossen Techkonzerne machen? Die Frage weht durch alle Räume im Haus der Elektronischen Künste in Basel, auch wenn es die Kuratorin Julia Kaganskiy so nicht formuliert. Sie zitiert stattdessen die Schwarze Lyrikerin und Aktivistin Audre Lorde: «Die Werkzeuge des Meisters werden niemals das Haus des Meisters abreissen.» Und sie versammelt Künstler:innen aus aller Welt, die den normierten Produkten von Big Tech alternative Visionen und Praktiken entgegensetzen, indem sie deren Werkzeuge subvertieren, hacken oder gleich ganz neu erfinden: Die Ausstellung «Tools for Change» erzählt vom Potenzial zur Selbstermächtigung.

Das gelingt, um es gleich vorwegzunehmen, unterschiedlich gut. Mitunter wird den Besucher:innen etwas gar viel Abstraktionsvermögen abverlangt. Am Anfang steht ein vertraut wirkender Metallkasten, wie eine Mischung aus Infotafel und Ticketautomat («Timezone #1», Kollektiv Nascent). Aber weshalb zeigen die Uhren auf dem Bildschirm verschiedene Zeiten? Und warum sind die Zeitzonen unterteilt in «Energy Time», «Healing Time» und «Machine Time»? In den Zonen ploppen rätselhafte Kurzinfos auf und verschwinden wieder, bevor man sie entziffern kann. Aufklärung verspricht, wie überall in der Ausstellung, ein QR-Code fürs Smartphone. Und wir lernen: Zeit ist ein «mächtiges Werkzeug zur Gestaltung gesellschaftlicher Organisation und zur Wahrnehmung der Realität», das es zu hinterfragen gilt.

Zeit als standardisiertes Konstrukt und Taktgeberin des Kapitalismus: Da werden gleich zu Beginn die ganz grossen Themen aufgeworfen – und mit ihnen viel Theorie. Über allem schwebt, als gemeinsamer Bezugspunkt der Ausstellung, der Philosoph und Kulturkritiker Ivan Illich. In seinem Buch «Tools for Conviviality» hat er bereits 1973 formuliert, wie Technologien und technische Werkzeuge zu Instrumenten der Selbstermächtigung werden können: indem sie den Kollektivgedanken fördern, auf Kooperation statt Konkurrenz setzen, niederschwelligen Zugang bieten und nach dem Bottom-up-Prinzip funktionieren.

Das Internet neu denken

Das wohl eingängigste Symbol dafür findet sich in vielgestaltiger Form in der Ausstellung wieder, es ist das soziale Netzwerk. Mitunter kommt es ganz analog (und etwas gar trivial) daher, in miteinander verbundenen Hängematten etwa, die ein LAN, ein lokales Kommunikationsnetzwerk, bilden, in das man sich einbetten darf. Oder in geflochtenen Körben, für die auch Kabel und Stecker verwendet wurden. Nur vermeintlich analog ist das Kartoffelinternet von Caroline Sinders, eine filigrane Skulptur aus rezykliertem Metall und Elektroschrott, die Kartoffeln als Energiequelle nutzt. Besucher:innen können sich ins Netzwerk einloggen und auf kleinen Displays eine Kurznachricht hinterlassen.

Um Dimensionen grösser gedacht – und tatsächlich in Betrieb, wie sich auf der Webplattform «Solar Protocol» mitverfolgen lässt – ist das solare Internet eines New Yorker Künstler:innenkollektivs: Es funktioniert einzig dank des koordinierten Efforts von Freiwilligen weltweit, die das Netzwerk über lokale solarbetriebene Server hosten. Das kommt dem Anspruch, «das Internet in Zeiten von Klimanotstand und globaler Energiekrise neu zu denken», wie es das Kartoffelinternet für sich behauptet, schon näher, könnte allerdings auch an einer Start-up-Messe gezeigt werden.

Der «G80» des Lausanner Kollektivs Fragmentin hingegen wirkte dort wie aus der Zeit gefallen und falsch parkiert. Dabei verbirgt sich auch in dieser simplen Konsole mit ihren achtzig Reglern ein hochkomplexes Netz. Ein imaginäres Netzwerk eigentlich, angelehnt an R. Buckminster Fullers «World Game» aus den sechziger Jahren, das auf eine gerechtere Verteilung von Ressourcen zielte. Regulieren lassen sich mit dem «G80» nicht nur öffentlicher Verkehr, Luftqualität oder Zugang zu Bildung, sondern auch so disparate Faktoren wie Rassismus, Glück und 5G, ja sogar Krieg, Klimaerhitzung und Biodiversität. Bloss kann man schieben, wo und wie man will, die restlichen Regler führen ein chaotisches Eigenleben, das Netzwerk führt sich so selbst ad absurdum. Und damit auch die Vorstellung, mit Big Data, Algorithmen und künstlicher Intelligenz lasse sich die ganze Welt simulieren und kontrollieren.

Dann doch lieber bei sich selber regulieren, die eigenen neuronalen Netzwerke sozial stimulieren und sich in Liebe mit der Welt verbinden – so ungefähr muss sich das Heather Dewey-Hagborg mit «Lovesick: The Transfection» gedacht haben. Die New Yorker Künstlerin hat in Zusammenarbeit mit einem Biotechunternehmen einen Retrovirus entwickelt, der das menschliche Hirn mit dem Bindungshormon Oxytocin flutet. Verführerisch leuchten die kunstvoll gekrümmten Ampullen mit der rosa Flüssigkeit hinter Vitrinenglas; wer daraus trinkt, läuft künftig mit rosa Brille durch die Welt. Und wieder meint man ein Echo aus den Sechzigern zu hören, als Timothy Leary zu einer ähnlichen gesellschaftlichen Infizierung mit LSD aufrief – «turn on, tune in, drop out»!

Mit den Augen hören

Wer mehr nach intellektueller Stimulation sucht, greift zu einem der drei Glasbehälter des Londoner Designstudios Superflux und lässt die darin enthaltene Wasserprobe aus einem Fluss in Essex von der «Ecological Intelligence Agency» (EIA) analysieren. Die EIA ist eine KI-basierte Behörde, die nach den Maximen der Arbeits-, Klima- und Datengerechtigkeit funktioniert und Vorschläge macht, wie das Ökosystem wieder ins Gleichgewicht gebracht werden könnte – letztlich auch das menschliche, so zeigt ihre Analyse der Probe mit Ewigkeitschemikalien wie PFAS, die sich in der Umwelt anreichern und negativ ins Hormonsystem eingreifen und krank machen. Das ist nicht nur wissenschaftlich informativ, sondern visuell so überzeugend wie poetisch umgesetzt.

Ein wirklich immersives Erlebnis bieten nur zwei Arbeiten in «Tools for Change», und sie bilden zugleich den Höhepunkt der Ausstellung. Die eine, «Genital (*) Panic» von Mary Maggic, durchleuchtet die Wirkungsweise von Umweltchemikalien, die den Hormonhaushalt stören, aus der Perspektive von Körper- und Geschlechterpolitik. Die nonbinäre Person nimmt dabei die biometrischen und zugleich normativen Marker der Medizin für Geschlechtsidentität und abweichende «Krankheitsbilder» ins Visier. Denn es geht nicht nur um geschrumpfte männliche Geschlechtsteile und veränderte sekundäre Geschlechtsmerkmale bei Frauen. Es geht um die Stigmatisierung und Pathologisierung von Körpern, die von der Norm abweichen, und die Gewalt, die ihnen dabei angetan wird. Das alles erfährt man in einem abgeschlossenen Raum – aber der Bildschirm ist so positioniert, dass die kritische Aufklärung nur verfolgen kann, wer sich auf einen gynäkologischen Stuhl legt. Gleich daneben liegen Gummihandschuhe und einschlägiges Werkzeug von der Spreizzange über den Schaber bis zur Nierenschale bereit.

Bequemer ists auf dem Sofa vor der Leinwand, und tröstlicher sowieso: In «Hands Performance» von Rashaad Newsome tanzt ein humanoider Roboter, der vage an C-3PO aus «Star Wars» erinnert, zu wummernden Bässen grazil und hyperagil durch eine Science-Fiction-Architektur. «Listen with your eyes», heisst es dazu im Refrain, der Clip richtet sich explizit an Gehörlose, der Tanzstil des Voguing entstammt der queeren Schwarzen Subkultur. Der Avatar gehört zum Inventar von Newsomes Arbeit im Bereich der digitalen Gesundheitsberatung, die sich explizit an die Black Community wendet und so ein Netzwerk der Fürsorge aufspannt für all jene, die die an Weissen orientierte Gesundheitsversorgung in den USA noch immer aussen vor lässt. Audre Lorde hätte ihre Freude gehabt an diesem Werkzeug zur Selbstermächtigung.

«Tools for Change» in: Basel, Haus der Elektronischen Künste, bis So, 17. November 2024. www.hek.ch