Lohnteilen: Kleine Beträge, grosse Wirkung
Die Idee ist so simpel wie überzeugend: Wer geben kann, gibt, wer durch die Pandemie in eine finanzielle Notsituation geraten ist, erhält. Der Verein «Lohnteilen» konnte so bereits vielen Menschen helfen.
Unruhige Nächte hatte Nina in den vergangenen Monaten viele. Gesellschaftspolitische Fragen hielten sie wach, die Sorge um das Klima, so wie viele Menschen in ihrem Alter. Die 19-Jährige sitzt in einem Café in Bern, rührt mit dem Teelöffel im Kaffee. «Ich war immer aktiv, das half, dieser Ohnmacht nicht ausgeliefert zu sein.» Als Corona in der Schweiz ankam, wollte sie handeln. Zusammen mit Nora, weiteren zwei Mitschüler:innen und einem Sekretär gründete sie «Lohnteilen». Ein Konzept, so schlank wie möglich: Wer kann, gibt von seinem Lohn, wer aufgrund von Corona in eine finanzielle Notsituation geraten ist, bekommt etwas.
«Wir wollten den Mechanismus so einfach wie möglich halten», erklärt Nora. Die 18-Jährige ist neben Nina im Vorstand des Vereins «Lohnteilen», und wie sie möchte sie ihren Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen. «Oft geht durch die Administration Geld verloren, das besser eingesetzt werden könnte.» Es war dieses schlanke Modell, das Sonja Jäggi überzeugte. Die 49-jährige Kogeschäftsleiterin sitzt in ihrem Büro und kümmert sich um die Aufträge ihrer Spenglerei, die sich auch während der Pandemie häufen. «Mein Mann und ich hatten ein gutes Geschäftsjahr, im Gegenteil zu vielen anderen.» Jedes Jahr spenden sie einen Teil ihrer Einnahmen, durch einen Medienbericht wurden sie auf Lohnteilen aufmerksam und überwiesen Geld. «Medienberichte und Mund-zu-Mund-Propaganda waren kostenfreie Möglichkeiten, mit denen wir Anfang März 2020 unsere Idee verbreiteten», erklärt Nina. Der berühmte Schneeballeffekt funktionierte: Nach Artikeln über ihr Vorhaben im «Bieler Tagblatt» und in «20 Minuten» im November 2020 landete neben Jäggis Einzahlung immer mehr Geld auf dem Konto.
Gesucht: Menschen in Not
Nora löffelt Milchschaum von ihrem Cappuccino. Ihr ist klar, dass dieses über fünf Franken teure Getränk für viele purer Luxus ist. Für diejenigen, die zwar in der reichen Schweiz leben, aber jeden Franken umdrehen müssen. So wie Claudia Egger*. Ihr Arbeitsleben als Nanny ist seit jeher ein Auf und Ab. Die Pandemie verschärfte ihre Situation. «Plötzlich kündigte mir eine Familie von einem Tag auf den anderen die Anstellung, da sich durch das Homeoffice ihre Anwesenheit änderte.» Der Beitrag vom RAV reichte neben ihrer weiteren Teilzeitbeschäftigung nicht weit. Sie lieh hier und dort kleine Beträge aus, machte Schulden im nahen Umfeld. Sich an eine Stiftung zu wenden, traute sie sich nicht. «Ich bin jetzt 39 Jahre alt und kann nicht auf eigenen Beinen stehen. Ein furchtbares Gefühl, das totale Versagen.» Erst der zweite Bericht in «20 Minuten» am 9. August 2021 brachte sie dazu, sich ein Herz zu fassen. Darin gab Lohnteilen bekannt, Geld verteilen zu wollen. «Die Situation war skurril», sagt Nina und schmunzelt, wird aber schnell wieder ernst. Nach dem ersten Aufruf wollten viele ihren Lohn teilen, aber es meldete sich niemand, der das Geld wollte. Diesmal sprach sie im Artikel gezielt die Hemmschwelle an, die bei einer Bitte um Geld überschritten werden muss. «Wir wussten: Es muss Leute geben, die dieses Geld dringend brauchen.» Es gab sie.
Der Ansturm war plötzlich riesig. Nun gingen täglich über hundert Anfragen ein. Es folgten Stunden, in denen die Vorstandsmitglieder darüber berieten, ob und wie viel Geld wohin überwiesen werden soll. Claudia Egger schilderte in einer Mail ihre finanziellen Schwierigkeiten. Ihre Anfrage wurde im Vorstand diskutiert, der, wenn die Not durch die Pandemie entstanden ist, nur noch die Höhe des Beitrags bestimmt. Die interne Vorgabe besagt, dass dieser Entscheid mindestens zu dritt gefällt wird. Egger gehörte zu den Unterstützten. «Schon am nächsten Tag hatte ich den Betrag für mein Monats-GA auf dem Konto», sagt sie.
335 Franken: ein Betrag, der zwar die Schulden nicht tilgte, aber auf den Franken genau der Summe entsprach, die ein Monatsabo kostet. Durch das bezahlte Zugticket konnte die 39-Jährige wieder spontane Anfragen für Notfall-Nanny-Einsätze annehmen, was ihr wiederum mehr Lohn einbrachte. «Dass Geld so unkompliziert dorthin verteilt werden kann, wo es gebraucht wird, ist in einer so kleinen Organisation wie Lohnteilen einfacher», stellt Nina klar. Sie hinterfragt die bürokratischen Abläufe des Schweizer Sozialsystems. «Wenn die Wohnungsmiete am letzten Tag des Monats bezahlt werden muss, um nicht in einen Teufelskreis zu geraten, dann ist eine Zahlung drei Monate später eben zu spät», sagt Nora. Dann setze die Negativspirale ein. Eine Situation, die die 69-jährige Regula Briner*, auch sie eine Unterstützerin von Lohnteilen, nie kennenlernen musste. «Ich hatte mein Leben lang das Privileg, nie in finanziellen Nöten zu sein», sagt die pensionierte Akademikerin. «Wenn so unkompliziert geholfen werden kann, muss man das tun», ist sie überzeugt. Sie selbst hegt kein Misstrauen gegenüber den sozialen Einrichtungen des Staates. Oft hat sie es indes schon erlebt, dass Menschen durch die Maschen des sozialen Netzes fallen.
Der Betreibung entkommen
Nina und Nora wollten neue Maschen knüpfen. Solche, die eben auch dann Halt geben, wenn alle anderen Instanzen zu kurz oder deren Unterstützung schlicht zu spät greifen würde. «Klar, man könnte sagen, diese kleinen Beträge, das bringt doch nichts», sagt Nora. Dass das nur ein Tropfen auf den heissen Stein sei. «Aber wir machen wenigstens etwas», doppelt Nina nach. Dieser Verantwortung müssten doch alle nachkommen, die gut über die Runden kämen.
Bei Rico Santos* hätte ein anderer sprichwörtlicher Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht, wäre er nicht auf dem heissen Stein verdampft. Gesundheitliche Beschwerden machten eine Operation der Hüfte des Betriebswirtschafters notwendig. Diese wurde aufgrund der pandemiebedingt hohen Bettenbelegung in den Spitälern um ein halbes Jahr verschoben. In diesem halben Jahr verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation seines Arbeitgebers, Corona sorgte für Verluste, Kündigungen folgten. Seine eigene fiel mit der verschobenen Hüftoperation zusammen. Santos war zu hundert Prozent arbeitsunfähig, nicht vermittelbar und erhielt deshalb keine Arbeitslosenbeiträge. Gleichzeitig anerkannte die Krankentaggeldversicherung das vom behandelnden Arzt ausgestellte Arbeitsunfähigkeitszeugnis nicht. Auf welcher Seite der Fehler passiert ist, lässt sich nur schwer nachvollziehen. Was nun? Weil die Familie von seinem Lohn abhängig war, standen Santos und seine Frau bis zur Klärung der Sachlage mit zwei schulpflichtigen Kindern ohne Einkommen da. Eine Zeit, in der Rechnungen schlicht nicht mehr bezahlt werden konnten.
Schon früher, als sein Kontostand noch in schwarzen Ziffern im Onlinebanking abzulesen war, hatte er in seinem persönlichen Umfeld von Lohnteilen gehört. Nun, als die Ziffern bereits rot leuchteten, wollte er sich immer noch selber helfen. «Irgendwann musste ich einsehen: Fehlt die Liquidität, geht es wahnsinnig schnell bergab.» Die Schulden der Familie wuchsen, gleichzeitig war es dem 53-Jährigen nicht möglich, auf die Schnelle eine neue Stelle zu finden. Er fiel durch die Maschen. Als ob sein Sturz in die Tiefe nicht schon genügte, verlor die Familie auch noch die Wohnung. «Ich war so weit unten, dass ich alles gemacht hätte, um meine Familie durchzubringen.» Santos seufzt tief. Die Hemmschwelle, sich irgendwo Hilfe zu holen, sei damals drastisch gesunken. Er erinnerte sich an Lohnteilen und bat um Hilfe.
Die Anfrage von Rico Santos ging ein, die Initiant:innen berieten. Es war eine von vielen Geschichten, die sie im vergangenen Jahr bewegten. «Manchmal musste ich mich ganz bewusst emotional distanzieren», erzählt Nina, sonst wäre eine professionelle Abwicklung schwierig geworden. «Oft hätten wir gern mehr gegeben. Andererseits tun wir wenigstens das, was wir können.» 30 709 Franken sind seit dem 25. April 2020 bei Lohnteilen eingegangen, jetzt liegt der Kontostand bei 2753.04 Franken. Die Zahlungseingänge und -ausgänge sind transparent auf der Homepage ersichtlich.
Ein Schatten legt sich nun über den kleinen Holztisch des Berner Cafés, so wie er sich damals über das Leben der Familie Santos senkte. Für den Vorstand von Lohnteilen war klar: Die Unterstützung ist dringend, innerhalb von 24 Stunden wurde der Betrag für die Krankenkassenprämie überwiesen. Wäre diese nicht rasch bezahlt worden, wäre Santos in eine Betreibungssituation geraten. «Durch Betreibungen noch weiter abzurutschen, wäre verheerend gewesen», er stockt kurz am Telefon und sagt dann: «Lohnteilen war ein absoluter Segen für uns.»
«Es könnte so einfach sein»
Der Betriebswirt konnte inzwischen eine neue Stelle antreten und fand eine Wohnung. Über den Berg ist er noch nicht. «Ich möchte so weit kommen, dass auch ich wieder etwas über Lohnteilen zurückgeben kann.» Dass wieder Beiträge auf das Konto des Vereins eingehen, ist nötig, damit dieser weiter aktiv sein kann. «Am 13. August mussten wir die Reissleine ziehen und konnten keine weiteren Unterstützungsanfragen annehmen», bedauert Nora.
140 Unterstützungsgesuche sind noch offen, die in der kurzen Zeit vom 9. bis 13. August nicht bearbeitet werden konnten. Die Initiant:innen machen weiter, bis wieder Geld fliesst. Sie erweitern den Vorstand, bemühen sich, die Idee von Lohnteilen weiter zu verbreiten. Vieles muss organisiert werden, bevor die Vorstandsmitglieder ins Studium, die erste eigene Wohnung oder ins Zwischenjahr weiterziehen. Das gemeinsame Projekt hält sie trotz unterschiedlicher Zukunftspläne zusammen. Sie wollen weiter Tropfen auf den heissen Stein tröpfeln, damit dieser immer weiter abkühlt. «Es liegt doch auf der Hand», sagt Nora und stellt die Kaffeetasse ab. «Wer genug hat, kann auch etwas abgeben.» Nina nickt, pflichtet ihr bei und schiebt ihrerseits die leere Tasse in die Mitte des Tisches. «Es könnte doch so einfach sein.»
* Namen geändert.