Verlegerinnen: «Das ist ein feministischer Akt der Selbstbefähigung»
Noch immer haben Frauen im Literaturbetrieb einen schweren Stand. Nicht nur darum haben Jil Erdmann und Katrin Sutter eigene Verlage gegründet. Ein Gespräch über das Büchermachen in einer Tieflohnbranche, cholerische Männer und die Notwendigkeit, so viele Perspektiven wie möglich zuzulassen.
WOZ: Katrin Sutter, Jil Erdmann, zum Schreiben brauche eine Frau Geld und ein eigenes Zimmer, schrieb Virginia Woolf 1929. Was braucht eine Frau heute, damit sie im Literaturbetrieb bestehen kann?
Katrin Sutter: Du musst sagen können: «Ich habe ein Buch geschrieben, ich bin cool.» Männer können das oft besser als Frauen. Natürlich braucht es strukturelle Veränderung im Literaturbetrieb, aber man darf sich auch nicht so leicht abschrecken lassen. Ein Buch zu veröffentlichen, braucht eine gute Portion Selbstbewusstsein und den Willen zur Selbstermächtigung.
Jil Erdmann: Ich möchte aber betonen, dass das nicht reicht. Das siehst du an meinem Beispiel. Ich hatte eine gute Idee, ich hatte das Selbstvertrauen, ich wollte unbedingt dieses Buch «Frauen erfahren Frauen» neu herausgeben und hatte Unterstützung von namhaften Autorinnen. Trotzdem habe ich keine Stiftungsgelder bekommen. Ich habe das Buch dann über Crowdfunding finanziert.
Sutter: Du hast sogar sehr viel Geld bekommen, schlussendlich!
Erdmann: Ja, zum Glück! Ich habe keine grossen Ersparnisse und bin auf Fremdfinanzierung angewiesen. Geld ist eben immer noch ein Thema. Jungen Frauen wird viel weniger Geld zugesprochen. Das ist in Studien deutlich belegt. Ob das bei mir eine Rolle spielte, weiss ich nicht. Aber wer Kapital bekommt und wer nicht, ist eine wesentliche Frage.
Sutter: Bücher von Frauen werden oft nicht als Kunst wahrgenommen. Vor allem wenn es um weibliche Erfahrungen geht. Für das Buch «Rendez-vous» der Zürcher Fotokünstlerin Caroline Minjolle zum Beispiel gab es von offizieller Seite kein Geld, weil man sagte: Das ist einfach eine Mutter, die ihre Kinder fotografiert, das ist keine Kunst. Ich sehe das nicht so. Ich sehe eine Frau, die ihr Leben rockt und das Beste daraus macht: Sie ist Künstlerin, sie hat Kinder und muss das verbinden. Und macht daraus grossartige Kunst!
Bücher von Frauen werden nicht nur weniger publiziert und gefördert, sondern auch seltener verkauft und besprochen. Trotzdem haben Sie sich beide auf Bücher von Frauen spezialisiert: Sowohl der Arisverlag als auch der Verlag Sechsundzwanzig geben ausschliesslich Bücher von Autorinnen heraus. Warum?
Sutter: Der Arisverlag hat eigentlich kein Label. Er hat nicht das Label «feministischer Verlag» oder «Verlag für Frauen». Das hat sich eher so entwickelt. Ich denke, das hat viel damit zu tun, wie ich bin und wie der Verlag entstanden ist. Ich arbeite schon lange als Fernsehjournalistin und Filmemacherin, davon lebe ich. Dann wollte ich ein Buch schreiben, hatte aber keine Lust, einen Verlag zu suchen. Als selbstständige Filmemacherin war ich bereits ein publizistisches Unternehmen, deshalb habe ich selber einen Verlag gegründet. Es ging eigentlich um Selbstbefähigung. Das ist etwas Wichtiges für mich. Das spürt man auch in den Büchern, die im Arisverlag erscheinen: Die kommen alle von Autor:innen, die sich nicht abschrecken lassen, sondern einfach machen. Ich denke, ich ziehe Leute an, die zu mir passen und Themen bearbeiten, die mit mir etwas zu tun haben. Eigentlich spielt es überhaupt keine Rolle, ob Mann oder Frau. Aber interessanterweise sind es jetzt doch alles Frauen, obwohl das Geschlecht für mich kein Ausschlusskriterium ist. Seit 2019 habe ich kein Buch mehr von einem Mann publiziert.
Erdmann: Bei meiner Verlagsgründung hatte ich auch vor, Texte von Frauen herauszugeben, ohne zu betonen, dass der Verlag Sechsundzwanzig ein feministischer Verlag ist. Ich wollte ja vor allem das Buch «Frauen erfahren Frauen» von Ruth Mayer wieder auflegen und habe mich an ihr orientiert. Mayer hat in den siebziger Jahren den Verlag Edition R + F gegründet. Das war der erste Verlag in der Schweiz, der ausschliesslich Texte von zeitgenössischen Autorinnen herausgab. Aber sie hat das nicht so vermarktet, sie hat es einfach getan. Das hat mir imponiert. Die Unterrepräsentation von Frauen in der Literaturwelt ist schon lange ein Thema für mich. Und ich habe überlegt, wie ich das kommunizieren soll, ob ich es überhaupt kommunizieren soll. Ich mag Labels auch nicht so gern. Aber wenn ich sehe, wie man mit Frauen und Feminismus umgeht, finde ich es wichtig, ein Statement zu machen und explizit zu betonten: Der Verlag ist ein feministisches Projekt.
Sutter: Ich finde das total gut. Einerseits als politisches Statement, aber auch marketingtechnisch finde ich es gut, dass man das so labelt. Wenn ich deine Marketingberaterin wäre, würde ich dir das empfehlen. Ich selbst könnte von meiner Art her meinen Verlag nicht so labeln.
Erdmann: Viel lieber würde ich einfach tolle Bücher von Frauen herausgeben und ganz unbemerkt die Frauenquote erhöhen. Aber ich sehe, dass es vielen Menschen ein Anliegen ist, darüber zu sprechen, dass Autorinnen und Frauenthemen unterrepräsentiert sind. Deshalb möchte ich dafür Platz schaffen. Es sollen möglichst viele Aspekte von Feminismus und Frausein verhandelt werden können. Die Themen in «Frauen erfahren Frauen» sind sehr unterschiedlich: Es geht um Mutterschaft, um sexualisierte Gewalt … Nicht alle Inhalte sind feministisch. Feministisch ist der Akt an sich: dass ich Frauen verlege und das auch so deklariere.
Schliesst man mit einem solchen Label nicht viele Menschen aus oder schreckt sie ab?
Erdmann: Ich habe schon solche Erfahrungen gemacht. Beim Crowdfunding gab es einen Mann, der das Projekt ganz toll fand und sagte, dass er es unterstützen wolle, aber dass ihn das Thema nicht interessiere, weil er ja ein Mann sei. Er meinte, er würde das Buch dann seiner Frau schenken. Ein anderer Mann, der zu meiner Lesung aus dem Buch kam, sagte: «Ich würde das Buch nie lesen, es interessiert mich nicht, was Frauen erleben.» Aber das sind Ausnahmen. An meine Lesung kamen viele interessierte Männer.
Sutter: Auch meine Bücher werden oft von Männern bestellt.
Erdmann: Feminismus ist nicht für Frauen. Feminismus ist für alle Geschlechter. Mein Leitfaden ist: so viele Perspektiven wie möglich. Das gilt für dieses erste Buch, das gerade herausgekommen ist, aber auch für die Reihe, die ich nun aufbauen möchte. Wenn es finanziell möglich ist, werden in Zukunft auch Romane und Lyrik ein Thema sein. Das «feministisch» wird sicher bleiben, aber ich schliesse nicht aus, dass ich auch Männer publiziere. Und ich beschäftige mich damit, wie ich in meinem Verlag auch nonbinäre Menschen willkommen heissen kann. Darüber diskutiere ich auch mit LGBTIQ-Aktivist:innen: Was unterscheidet die Erfahrungen einer trans Frau von denen einer Cis-Frau?
Die Geschlechterrollen haben sich verändert, sind durchlässig geworden. Immer mehr Menschen wehren sich gegen die binäre Zuordnung und lehnen eine eindeutige Identität als Mann oder Frau ab. Ist es überhaupt noch zeitgemäss, von weiblicher Erfahrung zu sprechen?
Erdmann: Ja, denn die Unterdrückung der Menschen, die als Frauen wahrgenommen werden, ist nach wie vor ein Thema. Man spricht ja oft davon, dass es einen Krieg gegen die Frauen gebe. Das kling sehr hart. Aber es entspricht der Realität, es gibt einen Kampf gegen die Mündigkeit der Frau. Die Erfahrungen, die ich als junge Frau mache, sind zum Teil ähnlich wie die von Frauen aus den Achtzigern.
An welche Erfahrung denken Sie?
Erdmann: Erfahrungen im Arbeitsumfeld zum Beispiel. Ich habe bei einem grossen Verlag gearbeitet, da ging es sehr sexistisch zu und her. Es gab extrem cholerische Männer, und als junge Frau wurde ich ständig auf mein Äusseres reduziert. Im Kader waren nur Männer, es gab täglich übergriffige Bemerkungen, ich wurde angefasst, man hat mich nicht ernst genommen, wenn ich etwas sagte …
Sutter: Ich habe diese Erfahrungen nicht gemacht. Ich weiss, dass es sie gibt, aber ich frage mich: Woran liegt es, dass es mir nicht passiert? Strahle ich etwas aus? Merke ich es nicht? Ich hatte nie das Gefühl, dass ich als Frau oder als Mädchen benachteiligt war. Oder wenn es Hindernisse gab, habe ich sie beseitigt. In der sechsten Klasse zum Beispiel durften alle Buben im Dorf Armbrust schiessen. Und ich fand: Das will ich auch. Obwohl ich sehr schlecht schiesse. Aber ich dachte: Warum soll ich das nicht können? Also sagte ich das, und von da an durften die Mädchen alle auch Armbrust schiessen.
Erdmann: Ich habe mich auch gewehrt, habe es auch direkt angesprochen. Aber das Ergebnis war, dass ich ausgeschlossen wurde. Ich wurde zum Beispiel nicht mehr zu Sitzungen eingeladen. Solche Dinge passieren. Manche können dem nicht standhalten. In «Frauen erfahren Frauen» gibt es einen Text, in dem die Autorin in 26 Punkten aufzählt, welche Sexismen sie in der Literaturwelt erlebt. Vieles, was Frauen heute erfahren, steht in diesem Buch drin!
Sind diese Erfahrungen der Grund, warum Sie sich selbstständig machen wollten?
Erdmann: Im Nachhinein denke ich: ja. Der zündende Funke war zwar das Buch von Ruth Mayer, das ich wieder auflegen wollte. Aber es hat mir auch nicht mehr gefallen, so zu arbeiten. Die Erfahrungen aus dem früheren Job habe ich jetzt in dieses Buch verwandelt, das andere Frauen bestärken soll.
Sutter: Du bist bei einem Verlag, wo du schlechte Erfahrungen machst, also gründest du deinen eigenen Verlag. Das ist ein feministischer Akt der Selbstermächtigung! Das kann man nicht von jeder Frau erwarten, nicht jede kann das. Aber je mehr es tun, umso mehr trauen sich auch andere das zu.
Im Literaturbetrieb ist die Frauenquote viel höher als in anderen Kulturbranchen. Bei Lesungen sitzen 44 Prozent Frauen auf der Bühne, in Leitungsfunktionen auf Direktionsebene sind sogar 55 Prozent Frauen. In der Musik hingegen tendiert die Frauenquote in solchen Funktionen gegen null. Das zeigt eine Vorstudie, die Pro Helvetia in Auftrag gegeben hat. Warum ist die Literaturbranche eine Vorreiterin, was Geschlechtergerechtigkeit angeht?
Sutter: Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Literaturbranche schlecht bezahlt ist. Man braucht eine gute Ausbildung, aber verdient kaum etwas. Die Intendanz im Schauspielhaus oder in der Oper ist sicher sehr viel besser bezahlt als die Intendanz am Literaturhaus. Die Literaturbranche ist bestimmt von Selbstausbeutung. Deshalb gibt es da wohl so viele Frauen.
Erdmann: Das ist ein sehr überzeugendes Argument.
Also kein Grund zur Freude?
Erdmann / Sutter: Nein.
Wir könnten diese Tieflohnbranche ja einfach den Männern überlassen. Braucht es wirklich mehr Bücher von Frauen?
Sutter: Ja, es braucht jedes Buch, das in meinem Verlag herauskommt! Zum Beispiel «Helvetias Töchter» von Nadine Brügger, das eine fundamental wichtige Diskussion anregt. Nämlich: Wie betreiben wir Geschichte? Welcher Geschichtsunterricht ist zeitgemäss? Muss der Geschichtsunterricht weiblicher werden?
Erdmann: Es gibt so viele Leute, die sich für Bücher von Frauen interessieren. Beim Crowdfunding hatte ich viel Unterstützung von Frauen, die deutlich jünger sind als ich. Das hat mich gefreut! Ich wünsche mir, dass sich junge Menschen in den Texten, die ich publiziere, wiederfinden, dass sie Anknüpfungspunkte finden, dass es eine Art Identifikation gibt. Dass wir Frauen sind, hat einen Einfluss – auf unser Programm, auf unsere Themen.
Sutter: Bücher haben einen Einfluss! Deshalb darf man das Feld nicht aufgeben.
Was wünschen Sie sich von Ihren Büchern?
Erdmann: Dass möglichst verschiedene Autorinnen zu Wort kommen und über Dinge schreiben, über die sie sonst vielleicht nicht schreiben würden. Damit ein breites Spektrum von menschlichen Erfahrungen sichtbar wird.
Sutter: Ich möchte mit meinen Büchern Diskussionen auslösen. Die dürfen auch kontrovers sein. Ein gutes Beispiel ist das Kinderbuch «Agentin Yeshi» von Gabriela Kasperski, in dem es um Rassismus geht: Oft erzählen mir Eltern, dass ihre Kinder das Buch gelesen haben und dass sie danach ganz lange gemeinsam über Rassismus diskutiert haben. Solche Rückmeldungen sind für mich das Schönste!
Erdmann und Sutter
Jil Erdmann (27) machte eine Lehre als Buchhändlerin. 2020 entdeckte sie in einem Antiquariat das vergriffene Buch «Frauen erfahren Frauen» der Edition R + F. Um es wieder aufzulegen, gründete sie Sechsundzwanzig als «Verlag für feministische Literatur» und «Netzwerk für schreibende Frauen». Die Neuauflage erschien im September 2021. Der Band wurde durch Arbeiten zeitgenössischer Autorinnen erweitert und durch Crowdfunding finanziert. Er enthält literarische Texte unter anderem von Ruth Schweikert, Tabea Steiner, Laure Wyss, Ruth Mayer und Anna Stern.
Katrin Sutter (47) ist Verlegerin, Filmemacherin, Fernsehjournalistin und Autorin. Den Arisverlag gründete sie 2017; im Oktober erscheint nun die 19. Publikation des Verlags. Das Spektrum reicht von Belletristik über Kunstbände bis zu Sachbüchern. Ausschlaggebend ist für Sutter, dass ein Buch zur gesellschaftlichen Diskussion beiträgt. Das gelang dieses Jahr unter anderem mit dem viel besprochenen Buch «Helvetias Töchter» von Nadine A. Brügger, das die Geschichte des Frauenstimmrechts in der Schweiz neu erzählt.