Europas Linke: Die Zeit der Taktik ist vorbei

Nr. 29 –

Die jüngsten Wahlerfolge zeigen: Will die Linke wieder wachsen, muss sie sich auf eine neue Programmatik besinnen – und sich um die in Schieflage geratene Demokratie kümmern.

Abstimmungslokal in Lyon am 7. Juli
Alternativen zum System der ritualisierten Wahlen sind nötig. Abstimmungslokal in Lyon am 7. Juli.   Foto: Caroline Minjolle

Die Lage ist etwas unübersichtlich, aber die Sehnsucht ist da: War das, was sich in den Wahlen der vergangenen Wochen gezeigt hat, ein Zeichen dafür, dass es möglich ist, dem Machtstreben autoritär-nationalistischer oder neofaschistischer Parteien etwas entgegenzusetzen? Sind hier personell und programmatisch Konturen dessen zu sehen, was eine neue linke Politik sein könnte? Lassen sich also aus den Wahlen in Frankreich, Grossbritannien und zum EU-Parlament Schlüsse ziehen, die politisch in die Zukunft weisen? Sind die Erfolge mehr als taktische territoriale Zwischengewinne?

Ein paar Beispiele: In Schweden steigerte die Linkspartei Vänsterpartiet bei den Europawahlen ihren Stimmenanteil um 4,4 Prozentpunkte, die Grünen um 2,4 und die Sozialdemokrat:innen immerhin um 1,2 Prozentpunkte – verloren haben die regierenden Christdemokrat:innen mit 3 Prozentpunkten weniger, der Koalitionspartner Centerpartiet mit 3,5 Prozentpunkten weniger und auch die rechtsextremen Schwedendemokraten mit einem Verlust von 2,2 Prozentpunkten. Die Wahlbeteiligung lag in Schweden bei 53 Prozent und war damit ebenso niedrig wie im Rest Europas – fast die Hälfte aller Wähler:innen glaubt also nicht einmal daran, dass es Sinn ergibt, sich an dieser so wichtigen Wahl zu beteiligen und sich deutlich für eine andere Politik auszusprechen.

Das Ergebnis in Schweden zeigt genauso wie jenes in Finnland, wo die Wahlbeteiligung bei deprimierenden vierzig Prozent lag und die Linkspartei mit einem Stimmengewinn von zehn Prozentpunkten klare Siegerin war: Europaweit erleben wir eine Demokratiekrise; eine Systemkrise, die sich mit den alten Strukturen und Angeboten, personell und programmatisch, nicht wird lösen lassen. Das ist eine Chance für eine Linke, wenn sie Kandidatinnen wie Li Andersson in Finnland oder Nooshi Dadgostar in Schweden aufstellt: Beide sind unter vierzig und formulieren eine klare neue Politik, die soziale Gerechtigkeit in den Vordergrund stellt und mit Klimagerechtigkeit verbindet. Aber reicht das?

In den Ruinen unserer Zeit

Die Zustimmung zur Demokratie als einem System, dem viele Menschen zutrauen, die Zukunftsfragen zu lösen, ist europaweit gering. Gefährlich gering, weil die Apathie und die Abwendung die Grundlage für antidemokratische Parteien bilden und eine Schieflage des Systems zeigen, die real ist. Zu lange haben sich gerade auch die Parteien der linken Mitte und vor allem Sozialdemokrat:innen damit begnügt, sich in den programmatischen Ruinen unserer Zeit einzurichten. Es scheint klar: Die programmatischen Prämissen, die seit den neunziger Jahren die Politik prägen – tiefe Steuern, ein kleiner, zusammengesparter Staat, Umverteilung von unten nach oben, die harte Austeritätspolitik –, sind an ihr Ende gekommen. Und ohne inhaltliche Grunderneuerung wird auch das Vertrauen ins System nicht zurückkommen.

Das legen auch einige der Debattenbeiträge nahe, die in Frankreich vor und nach den vorgezogenen Parlamentswahlen zu lesen waren. Das Linksbündnis der Neuen Volksfront, der Nouveau Front populaire (NFP), ging überraschend als Sieger aus den Wahlen hervor – eine taktische Meisterleistung, die die Linkspartei La France insoumise, die Sozialist:innen, oder besser: Sozialdemokrat:innen, die Grünen und die Kommunist:innen verband. Wie sie regieren wollen, ist allerdings völlig offen, schon kurz nach der Wahl haben sie sich in der Frage zerstritten, wer Ministerpräsident:in werden soll – vereint waren sie erst einmal in der Abwehr des rechtsextremen Rassemblement National (RN).

Programmatisch sprach sich etwa der Ökonom Thomas Piketty in «Le Monde» für einen klaren Neuanfang aus: Die Linke müsse endlich «das alternative Wirtschaftssystem» beschreiben und bauen, das den Neoliberalismus ablösen könne. Unterstützt wurde er bei dieser Forderung vom Ökonomen Gabriel Zucman, der schon vor den Wahlen einen neuen Anlauf für eine weltweite Steuer für Superreiche unternommen hatte.

Verzerrte Verhältnisse

Hier zeigt sich die eigentliche Bruchlinie unserer Zeit, die für die Linke eine Chance bietet. Die neoliberale Epoche, die in den achtziger Jahren begonnen hatte, nahm in den neunziger Jahren unter Bill Clinton in den USA, Tony Blair in Grossbritannien und Gerhard Schröder in Deutschland stark an Fahrt auf. Sie führte zu wachsender wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit, gab das staatliche Steuerungsmittel der, ja, Steuern aus der Hand und delegitimierte den Staat durch Sparmassnahmen sowie das grundsätzliche Misstrauen in seine Funktionsfähigkeit mehr und mehr. Diese Epoche, so beschreibt es etwa der Historiker Gary Gerstle in seinem Buch «The Rise and Fall of the Neoliberal Order», ist an ein Ende gekommen.

Es bleibt die Aufgabe der Linken, inhaltlich Antworten auf dieses Ende zu finden, auf ein Vakuum zu reagieren, das auch ein Vakuum der Ideen ist, der Geschichten, der Bilder und Selbstbilder: Wie soll der Staat von morgen aussehen, der zugleich stärker ist im Sinne eines fürsorgenden und vorsorgenden Staates, der Investitionen in Infrastruktur und Zukunft unternimmt, den demografischen und den Klimawandel antizipiert und nachhaltige Konzepte findet? Und der gleichzeitig flexibler sein sollte, nicht im neoliberalen Sinn, aber sich fortbewegt vom Konzept eines starken Staates, wie es als Erinnerung aus den siebziger Jahren noch in den Köpfen mancher Sozialdemokrat:innen herumschwebt: offener für Risiko und Unsicherheit, durchlässiger auch für Menschen und Ideen?

Das alles hat viel mit grundlegenden Überlegungen über die Natur des Systems zu tun, das wir Demokratie nennen. Aber wie genau soll sie, kann sie funktionieren, unter anderen technologischen Bedingungen etwa? Wie kann die Demokratie durchlässiger werden? Etwa durch digitale Bürgerräte? Wie kann die Kommunikation zwischen Bürger:innen und Politik schneller werden, mehr auf Augenhöhe stattfinden? Wie kann es Alternativen geben zum System von Wahlen alle vier Jahre? Etwa neue Runde Tische, wie sie in der Endzeit der sozialistischen Staaten 1989/90 so erfolgreich eingesetzt wurden? Wie kann man eine grundsätzliche Repräsentationslücke schliessen und dafür sorgen, dass das Wahlrecht nicht mehr an die Staatsbürgerschaft gebunden ist (in der Schweiz ist so ein Viertel der Bürger:innen von der demokratischen Mitsprache ausgeschlossen)? Wie können also alle Menschen, die in einem Land leben, auch gemeinsam entscheiden, wie dieses Land regiert werden soll?

Das alles ist wichtig zu sehen, gerade nach dem scheinbaren linken Erfolg bei den vergangenen Wahlen. Denn jenseits der programmatischen Fragen zeigt ein genauerer Blick auf das eigentliche Wahlergebnis, wie schief das gegenwärtige System Machtverhältnisse abbildet: Das RN steigerte seinen Stimmenanteil vom ersten zum zweiten Wahlgang von 29 auf 31 Prozent und landete damit vor dem NFP mit 25,7 Prozent – die Anzahl der Mandate aber ist erheblich kleiner, 125 für das RN und 178 für den NFP. Und auch Emmanuel Macrons Partei Ensemble – mit 23 Prozent weit hinter dem RN – hat mit 150 Mandaten mehr Sitze im Parlament als die Wahlgewinner von Rechtsaussen.

Es sind Verzerrungen im System, die nicht mehr lange tragen werden. Ebenso deutlich hat sich das in Grossbritannien gezeigt. Dort hat Labour bei weitem die meisten Sitze gewonnen, dies nach vierzehn Jahren wahrlich desaströser Tory-Politik. Auch dieses Ergebnis verzerrt zum einen massiv die Proportionen des Wähler:innenwillens, weil Labour mit 34 Prozent der Stimmen mehr als dreimal so viele Abgeordnete hat wie die konservative Tory-Party mit 23 Prozent; zum anderen ist der Labour-Sieg kein Sieg, sondern eine Tory-Niederlage. Wegen der mit nicht einmal sechzig Prozent sehr geringen Wahlbeteiligung – der niedrigsten seit Einführung des allgemeinen Wahlrechts – geniesst der neue Labour-Premierminister Keir Starmer weniger Unterstützung in reinen Stimmen als etwa 2017 der nicht gewählte Jeremy Corbyn und sowieso Tony Blair 1997.

Zu still, zu defensiv

Das wiederum bedeutet, dass viele Wähler:innen, die sich vom System nicht beachtet fühlen, entweder ganz den demokratischen Prozess verlassen oder sich eben den rechtsextremen Alternativen zuwenden, die wenigstens versprechen, dass sie Antworten auf die Krise hätten. Die Linke hat es im Zeichen des neoliberalen Turns der neunziger Jahre mehr und mehr aufgegeben, diese Antworten zu formulieren – und Keir Starmer wiederum ist ein altmodischer und rechter Sozialdemokrat, hart bei Law and Order genauso wie bei seiner restriktiven Ausgabenpolitik, weit entfernt davon, konstruktive und systemische Auswege zu präsentieren.

Aber genau darum muss es jetzt gehen: angstfrei und mit eigenen linken Ideen das 21. Jahrhundert zu gestalten. Untersuchungen zeigen, dass es keinen Rechtsrutsch in dem Sinne gibt, als dass sozialdemokratische Parteien Wähler:innen an rechte Parteien verlieren, denen sie programmatisch zum Beispiel mit Antimigrationsrhetorik und -politik hinterherlaufen; die Parteien in der linken Mitte verlieren Unterstützung, weil sie keine eigenen Positionen formulieren, die die Fragen nach sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit genauso betreffen wie bröckelnde Schulen, steuerliche Ungerechtigkeit und eine ausser Kontrolle geratene Klimaerwärmung.

Hier muss linke Politik beginnen: mit der Einsicht, dass wir am Beginn einer neuen Epoche stehen. Donald Trump etwa hat Antworten, er weiss, wie er die Zukunft nach dem Neoliberalismus gestalten will. Die Linke muss sich klar dagegenstellen, mit eigenen Ideen und Antworten und nicht mehr vom Gleichen. Die Zeit der Taktik ist vorbei. Es braucht einen echten Wandel in Strategie und politischer Programmatik. Es braucht auch ein Verständnis dafür, dass kulturelle Zugehörigkeit eine wichtige Rolle spielt, wenn es um Identifikation mit einer politischen Richtung geht. Die Maga-Stürmer:innen um Trump herum haben das verstanden; die Linke ist auch hier zu still, zu defensiv, zu wenig mutig.

All das wird eine Weile dauern. Es ist ein linkes Generationenprojekt, weil das Pendel der Geschichte gerade weit in die Gegenrichtung ausschlägt.

Georg Diez (55) war Kolumnist beim «Spiegel» und ist heute Fellow der Max-Planck-Gesellschaft und Senior Advisor von «Project Together», wo er sich mit Themen der demokratischen Innovation beschäftigt.