Wahlen in Ostdeutschland: Apropos Zeitgeist

Nr. 36 –

In Thüringen wurde schon so manches politische Experiment unternommen – nun endet das der Linkspartei, und jenes von Sahra Wagenknecht beginnt.

Gäste an einer Wahlparty der Thüringer Linken am Sonntag in Erfurt
Was nun? Wahlparty der Thüringer Linken am Sonntag in Erfurt. Foto: Hannes P. Albert, Keystone

Wie fühlt sich eigentlich ein politisches Erdbeben an? In der Hauptstadt Thüringens lässt es sich am Sonntagnachmittag jedenfalls nicht erspüren. Gemütlich schlendern die Erfurter:innen zwischen Flüsschen, Fachwerk und Cafés umher und geniessen den freien Tag. Viele haben zuvor ihre Stimme abgegeben – die Wahlbeteiligung bei diesen Landtagswahlen liegt, wie sich später zeigen wird, bei 75 Prozent, das sind 9 Prozentpunkte mehr als bei der letzten Wahl. Ein Akkordeonspieler dudelt am Wenigemarkt den antifaschistischen Klassiker «Bella ciao». Doch jede:r Dritte im westlichsten der ostdeutschen Bundesländer, dem ersten und einzigen, in dem es mit Bodo Ramelow einen Ministerpräsidenten von der Linkspartei gibt, hat diesmal die rechtsextreme AfD angekreuzt. Vielleicht weil die Umfragen seit geraumer Zeit kaum mehr einen Zweifel daran liessen, dass das Erbeben bevorsteht, ist die Stimmung an diesem Nachmittag trotz allem betont entspannt.

Einige Stunden später manifestieren die ersten Prognosen, was viele befürchtet haben: Zum ersten Mal seit dem Nationalsozialismus hat eine rechtsextreme Partei eine Wahl in einem Bundesland gewonnen. In einem zum alternativen Kulturzentrum umgebauten Güterbahnhof nehmen etwa 200 Mitglieder der Linkspartei diese Tatsache stumm zur Kenntnis. Überrascht ist niemand, erschüttert schon. Kurz vor 18 Uhr hatte der Thüringer Linken-Vorsitzende Christian Schaft noch rasch die Parole für den Abend ausgegeben, die später oft wiederholt werden wird: «Was auch kommen mag, unser Kampf geht weiter, die Hoffnung stirbt nicht.»

Dann erscheinen die Balken auf der Grossleinwand, und klar ist: Die Linkspartei muss nicht nur den Wahlsieg der Rechtsextremen verkraften, sondern auch den eigenen Absturz. Der ist spektakulär: von 31 Prozent im Jahr 2019 auf 13,1 Prozent. Und dann ist da noch ein dritter Balken, der von den Genoss:innen besonders aufmerksam beobachtet wird: der des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW), das mit Spitzenkandidatin Katja Wolf, die selbst ein Vierteljahrhundert lang eine Genossin war, aus dem Stand 15,8 Prozent holt. In Deutschland hat es so einen Blitzstart einer neuen Partei noch nie gegeben – das BSW ist erst zu Jahresbeginn entstanden, als Abspaltung von der zerstrittenen Linkspartei.

Höhere Mathematik

In Thüringen wird der Krisengeschichte dieser Partei ein weiteres Kapitel hinzugefügt, ebenso wie der Erfolgsstory jener, die sich nicht mehr links nennen wollen, die aber Fleisch vom Fleische der Linken sind: Nicht nur Abgeordnete und Mitglieder sind zum BSW gewechselt, sondern auch 84 000 Thüringer Wähler:innen. Zwar ist Die Linke hier immerhin noch zweistellig – bundesweit dümpelt sie bei drei Prozent herum. Mit der krachenden Abwahl Bodo Ramelows ist nichtsdestotrotz der «Thüringer Weg» – linker Pragmatismus im Bündnis mit Sozialdemokrat:innen und Grünen, machtbewusst mitunter bis zur Unkenntlichkeit des eigenen Profils – vorerst am Ende angelangt. Auch wenn das in der Linkspartei niemand sagen möchte. Stattdessen: «An der Regierung lag es nicht.» Und: «Gegen den Zeitgeist lässt sich wenig machen.»

Apropos Zeitgeist: In Thüringen war es auch, wo 1924 der Aufstieg von Hitlers NSDAP begann – ebenfalls bei einer Landtagswahl. Damals bildete ein konservatives Parteienbündnis, der Thüringer Ordnungsbund, eine von der NSDAP-Ersatzpartei Völkisch-Sozialer Bund (die NSDAP war zu dem Zeitpunkt verboten) tolerierte Landesregierung. 1930 folgte dann die erste Regierungsbeteiligung der NSDAP ebenfalls in Thüringen.

Kundgebung des Bündnisses Sahra Wagenknecht am Donnerstag vor der Wahl in Erfurt
Ein Programm voller Widersprüche: Kundgebung des Bündnisses Sahra Wagenknecht am Donnerstag vor der Wahl in Erfurt. Foto: Jens Schlüter, Getty

Hundert Jahre später sind solcherlei Szenarien noch unwahrscheinlich: Alle Parteien haben eine Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen, auch die konservative CDU. Das Wahlergebnis im Bundesland, das 2,15 Millionen Menschen ein Zuhause ist, bringt aber grosse Komplikationen mit sich. Nach den ersten Hochrechnungen noch nicht absehbar, stellt sich im Lauf des Wahlabends heraus: Eine Regierungsbildung jenseits der AfD ist nur möglich, wenn CDU, SPD und das Bündnis Sahra Wagenknecht eine Minderheitskoalition bilden, die die Linkspartei obendrein noch tolerieren müsste. Anders als es zunächst aussah, fehlt dem Dreierbündnis CDU-BSW-SPD, für das es bereits eine neue Politvokabel gibt – «Brombeerkoalition» –, nämlich ein Sitz zur eigenen Mehrheit. Und mit der Linken direkt in einer Koalition zusammenzuarbeiten, das hat die CDU vor Jahren eigentlich ausgeschlossen.

Für sie gilt bislang, dass AfD und Linke ähnlich schlimm seien. Am Montag nach der Wahl deutet sich allerdings an, dass dieser Unvereinbarkeitsbeschluss fallen könnte, erste prominente CDU-Politiker:innen haben die Debatte darüber eröffnet. Mutige halten sogar mehr als eine Tolerierung für denkbar, nämlich eine Koalition von CDU, BSW und Linkspartei, die dann auch eine eigene Mehrheit hätte.

So oder so werden die Rechtsextremen wohl von der Regierung ferngehalten. Macht gewinnt die Thüringer AfD, deren Vorsitzender Björn Höcke ein lupenreiner Faschist ist, aber auch ohne Regierungsbeteiligung, denn sie verfügt im neuen Landtag über eine Sperrminorität: Künftig können hier ohne AfD keine Beschlüsse mehr gefasst werden, für die eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist. Das betrifft etwa Verfassungsänderungen oder die Ernennung von Richter:innen.

Warten auf «Sahra»

In dem Moment, da die Anhänger:innen der Linkspartei im alten Güterbahnhof versuchen, den Mut nicht zu verlieren, ist das zwar schon klar; dass Die Linke aber vielleicht doch nicht in die Opposition geschickt wird, weiss zu diesem Zeitpunkt noch keine:r. Auch jene nicht, die zur gleichen Zeit im Landtag in Presserunden Rede und Antwort zu den Hochrechnungen stehen. Darunter natürlich: Katja Wolf und Bodo Ramelow.

Der abgewählte Ministerpräsident lässt sich zwar Sorgen, aber kaum Groll anmerken, er spricht gar, mit Verweis auf die gestiegene Wahlbeteiligung, von «einem Festtag der Demokratie». Katja Wolf sagt in die Kamera, das Bundesland brauche «einen Neustart», es müsse «gut regierbar sein» – mit der Selbstsicherheit der erfahrenen Politikerin, die sie ist. Immerhin gehörte sie bis vor kurzem selbst noch der Regierungspartei an.

So wie einige weitere derer, die sich schon ein paar Stunden zuvor im Dompalais versammelt haben, einem exklusiven Veranstaltungsort in der Erfurter Altstadt, der so ziemlich das Gegenteil des alternativen Güterbahnhofs ist, den Die Linke angemietet hat. Im dritten Stock des noblen Baus schieben sich eine Stunde vor den ersten Ergebnissen ein paar Dutzend in Anzug oder Kostüm gekleidete Mitglieder des BSW – in ganz Thüringen hat es nur achtzig, da die Aufnahme streng reguliert ist – und dreimal so viele Journalist:innen durch den schlauchförmigen Raum. Alle warten darauf, dass Spitzenkandidatin Wolf und natürlich Wagenknecht, die zwar nicht zur Wahl steht, aber die wichtigste Figur der nach ihr benannten Formation ist, auftauchen. Erst eine Minute vor der ersten Hochrechnung ist es so weit.

Was folgt, ist zusammengezimmert und professionell zugleich, so wie das ganze BSW, das auch habituell eine seltsame Melange aus langjährigen Politikprofis und Neulingen, aus bodenständig und abgehoben ist. Blick auf die Hochrechnung, Applaus, Ende der TV-Übertragung, Reden. Katja Wolf lobt den engagierten Wahlkampf und erklärt, man werde allen demokratischen Parteien im Landtag – also allen ausser der AfD – Gespräche anbieten und dabei den Fokus auf Frieden und soziale Gerechtigkeit legen. Wagenknecht spricht von einem Denkzettel für die Ampelregierung in Berlin, die Menschen wollten Frieden und nicht noch mehr Waffen. Ausserdem grosser Dank an die vielen Helfer:innen, die all die Wahlplakate aufgehängt haben, zu ihnen werde sie gleich noch gehen und sich persönlich bedanken.

Vom Land in den Bund

Anschliessend rauscht Katja Wolf ab in den Landtag, zu den Presserunden mit den Kandidat:innen, und Wagenknecht stellt sich den Massen an Kameras und Mikrofonen, die im Dompalais alle auf sie gerichtet sind – in den kommenden eineinhalb Stunden gibt sie ein Statement nach dem anderen ab. Die Unterstützer:innen dürfen sich derweil am Buffet bedienen, vielleicht kommt «Sahra» nach den Interviews ja tatsächlich noch bei ihnen vorbei? Ein Kamerateam, das sich auch zu den Tellern vorwagt, wird indes zurückgepfiffen: Essen nur für Mitglieder und Helfer:innen.

Dabei könnte man viele Medien durchaus zu den Helfer:innen des BSW zählen. Kaum einer politischen Figur in Deutschland, die kein Amt innehat, wurden in den vergangenen Jahren so viel Sendezeit und so viele Zeitungsartikel gewidmet wie Wagenknecht. Dass sie eine programmatisch widersprüchliche Einpersonenpartei gründen konnte, deren Forderungen sich aus Themen fast des gesamten Spektrums von AfD (gegen Migration, für die Freundschaft mit Russland), CDU und FDP («wirtschaftliche Vernunft») bis zur Linkspartei (Sozialpolitik) zusammensetzen, ist unter anderem dieser Aufmerksamkeit zu verdanken. Im Spaltungsdrama der Linkspartei, das sich über Jahre hinzog, dominierte sie stets die Berichterstattung.

Auch in Thüringen haben viele das BSW wegen Wagenknecht gewählt, die zwar in Jena geboren und aufgewachsen ist, aber ihren Platz in der Bundes-, nicht der Landespolitik sieht. Gleichwohl sind die Landtagswahlen für sie ein Hebel, Einfluss auf die Politik im Bund zu nehmen. Keine Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland, keine weiteren Waffenhilfen an die Ukraine und eine Initiative für Verhandlungen mit Russland, das hat sie zur Bedingung für den Eintritt des BSW in eine Koalition in Sachsen und Thüringen gemacht. Über deutsche Aussenpolitik entscheidet eine Landesregierung zwar nicht, gleichwohl müssten die Forderungen irgendwie berücksichtigt und etwa in einem Koalitionsvertrag festgeschrieben werden. Sowohl für CDU als auch SPD ist das eine Kröte, die schwer zu schlucken sein wird – für das BSW eine Ausstiegsoption aus den Landesregierungen, falls die Regierungsgeschäfte doch nicht nach Plan laufen.

Katja Wolf hat sich hinter diese Forderungen gestellt – Friedenspolitik sei der Markenkern des BSW und unumstösslich –, ihre politischen Schwerpunkte liegen indes in anderen Feldern: Schul- und Bildungspolitik, Infrastruktur im ländlichen Raum. Auch wenn Wagenknecht die öffentliche Wahrnehmung der Partei bestimmt, ist in Thüringen auch Wolf keine Unbekannte. Als Exoberbürgermeisterin der Stadt Eisenach gehörte sie zu den beliebtesten Politiker:innen der Linkspartei.

Kurswechsel, aber wie?

Zwei Kilometer nördlich dudelt im alten Güterbahnhof bei der Zusammenkunft der Linkspartei «You Can’t Always Get What You Want» von den Stones aus den Lautsprechern. Nachdem die ersten Tränen getrocknet sind und mehrfach der antifaschistische Kampf beschworen wurde, wartet man hier auf «Bodo», der kommen soll, wenn die Presserunden durchgestanden sind. Eine würdige, sprich: jubelnde Begrüssung wollen ihm die Genoss:innen bereiten. Ramelow trudelt schliesslich kurz nach acht unter tatsächlich grossem Applaus ein und klettert auf die Bühne. Er bekämpfe keine Partei ausser der AfD, sagt er, auch nicht das BSW. Und stimmt dann seine Genoss:innen auf die künftige Rolle in der Opposition ein, was wenige Stunden später schon wieder halb überholt sein wird.

Kurz nachdem sich Ramelow am Sonntagabend im alten Güterbahnhof den Schweiss von der Stirn getupft und die Bühne verlassen hat, gibt es dort erneut Jubel: Aus Sachsen, wo an diesem Tag ebenfalls gewählt wurde, kommen gute Nachrichten. Anders als befürchtet, zieht Die Linke doch entsprechend ihrem prozentualen Ergebnis mit sechs Abgeordneten in den Landtag ein, obwohl sie die Fünfprozenthürde verpasst. Gemäss Wahlrecht reichen dazu zwei sogenannte Direktmandate, die die Partei in Leipzig, der grössten Stadt Sachsens, erzielt: Juliane Nagel im Wahlkreis Leipzig 4, zu dem der linke Stadtteil Connewitz gehört, und Nam Duy Nguyen im Wahlkreis 25. Nguyen wird ein Neuling im Parlament sein. Er und sein Team haben im Wahlkampf an rund 40 000 Wohnungstüren geklingelt, er hat sich im Zuhören geübt, hat angekündigt, seine Abgeordnetenbezüge auf 2500 Euro im Monat zu begrenzen. Als Kind vietnamesischer DDR-Vertragsarbeiter:innen wird er die erste Person of Color im sächsischen Landtag sein, fast vierzig Prozent haben ihn in seinem Wahlkreis gewählt.

Die Wahlkampagne des 28-Jährigen könnte zum Modell für die Linkspartei werden, die – so sehen es viele Mitglieder – einen Kurswechsel braucht, um zu überleben. Gut möglich, dass er einer ist, der für die Zukunft der Partei steht, nicht nur wegen seines jungen Alters, sondern auch wegen des Anspruchs, anders Politik machen zu wollen. Eher so wie die KPÖ im österreichischen Graz. Was bedeutet, auch wenn es offen kaum jemand sagt: weniger wie Ramelows machtbewusste Linke in Thüringen.

Was geschieht eigentlich nach einem politischen Erdbeben? Einerseits: weitermachen. Das gilt nach dem Wahlwochenende für den Kampf gegen die AfD. Ob dafür die bisherigen Strategien ausreichen – diese Debatte hat längst begonnen. Andererseits: Trümmer aufsammeln, einiges wiederverwenden, anderes nicht. Diese Bergungsarbeiten stehen vor allem der Linkspartei bevor. Und das BSW? Das ist aus den Trümmern als halber Riese auferstanden – die deutsche Politik wird es vorerst mitbestimmen.