«Unia-Millionen»: Müssen Linke arm sein?
Die grösste Gewerkschaft der Schweiz verfügt über ein Vermögen von fast einer halben Milliarde Franken. Auch wenn dies problematische Seiten haben kann: Der jüngste mediale Skandalisierungsversuch ist ein ziemlich durchsichtiges Manöver.
Am Freitagmorgen gab es auf der Website der Unia um Punkt neun Uhr ein kleines, aber viel diskutiertes Update: Die Gewerkschaft schaltete ihre letzten fünf Jahresrechnungen auf. Die rund vierzigseitigen Dokumente waren zuvor jeweils nur 129 Delegierten ausgehändigt worden, während sich die Öffentlichkeit mit einer knappen Erfolgsrechnung hatte begnügen müssen. Die Publikation erfolge nun «aufgrund des medialen Interesses», hatte es in einer Ankündigung geheissen. Was sie damit meinte, erklärte Präsidentin Vania Alleva dann am Nachmittag an einer Onlinepressekonferenz: Es habe in den letzten Wochen «ein grosses Geschrei» um das Unia-Vermögen gegeben, das sie «ziemlich verlogen» finde.
Tatsächlich erinnerte der mediale Aufruhr, insbesondere vorgetragen vom «Tages-Anzeiger», an eine eigentliche Kampagne gegen die grösste Gewerkschaft des Landes. Diese habe «ihr riesiges Vermögen» gegenüber den eigenen Mitgliedern und der Öffentlichkeit «verheimlicht», hiess es dort, nachdem die Zeitung in einem Bundesgerichtsurteil auf Zahlen gestossen war, die auf Unia-Immobilien im Wert von gegen 400 Millionen Franken schliessen liessen. Der «Blick» kam zum Schluss, dass das Gesamtvermögen tatsächlich über 950 Millionen Franken betrage und abzüglich Schulden und Abschreibungen immerhin noch fast eine halbe Milliarde. Und das Boulevardblatt liess Peter Grünenfelder zu Wort kommen, Direktor der marktliberalen Denkfabrik Avenir Suisse. Er forderte, «die gewerkschaftliche Dunkelkammer» müsse «nur schon aus demokratiepolitischen Gründen endlich ausgeleuchtet werden». Zum Vergleich: Auf der Website von Avenir Suisse finden sich unter «Jahresbericht 2020» genau sechs Kennzahlen zum Budget über 5,5 Millionen Franken. Verständlich, dass Vania Alleva die zugeschalteten Journalist:innen am Freitag dazu aufforderte, die politischen Akteur:innen endlich «mit gleichen Ellen» zu messen.
Brachenübliche Standards
Natürlich hätte die Unia mit mehr Transparenz den Kritiker:innen weniger Angriffsfläche geboten. Und natürlich stellen sich auch heikle Fragen, wenn die Unia ein strukturelles Defizit – die Personalkosten ihrer 1246 Angestellten beliefen sich im letzten Jahr auf über 115 Millionen Franken – teilweise mit Einnahmen aus dem Immobilien- und Aktiengeschäft deckt. Gemäss Eigendarstellung setzt die Verwaltungsfirma Zivag AG, die sich gänzlich in Händen der Unia befindet und unter anderem deren sämtliche 151 Liegenschaften verwaltet, ihre Mieten weit unter Marktniveau an. In einer stichprobenartigen Recherche konnte die linke Zeitung «P.S.» aber nicht bestätigen, dass dies durchgehend zutrifft.
Bei ihren Finanzanlagen verfolgt die Unia zudem keine ethischen Richtlinien, die entscheidend über übliche Standards hinausgehen. Dass man sich damit von Marktdynamiken abhängig macht, die den Lohnarbeiter:innen in der Schweiz und anderswo oft zuwiderlaufen, stellt auch der Unia-Kommunikationsverantwortliche Serge Gnos nicht in Abrede. «Es ist richtig, dass die Liegenschafts- und Wertschriftenerträge zur Finanzierung eines Teils der Mitgliederleistungen dienen», sagt er. Man stehe in der Verantwortung, diese langfristig sicherzustellen. «Wir zielen aber nicht auf maximale Renditen, sondern wollen unsere Zukunft sichern», so Gnos.
Rund 2500 Franken pro Mitglied
Letztlich ist die jüngste Skandalisierung des Unia-Vermögens ziemlich durchsichtig. Sie zielt auf die Erwartungshaltung, wonach linke Organisationen arm zu sein haben, um glaubwürdig zu sein. Dabei lässt sich historisch leicht nachvollziehen, weshalb Gewerkschaften in der Schweiz über teilweise beträchtliches Eigenkapital verfügen. Man dürfe nicht vergessen, dass sie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in erster Linie Unterstützungsinstitutionen für Arbeiter:innen in Notlagen gewesen seien, wofür sie entsprechende Reserven angelegt hätten, erklärt Historiker Bernard Degen von der Universität Basel. «Hinzu kamen seit dem späten 19. Jahrhundert die Arbeitskämpfe, für die ebenfalls Mittel bereitgehalten werden mussten, denn Streiken ist sehr teuer.» Die Vermögen der Gewerkschaften dürften vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg stark zugenommen haben, während Jahrzehnten gewaltigen Wachstums und fast ohne Streiks, so Degen. Zudem legten ihre Liegenschaften – etwa Sekretariate oder Versammlungssäle, oft in Stadtzentren – in den letzten Jahrzehnten enorm an Wert zu.
Wenn sich die Unia heute auf der über hundert Jahre alten Basis ihrer Vorgängerorganisationen teilfinanziert und daraus auch ihre politische Schlagkraft zieht, ist das durchaus legitim. Ihr Kapital gehört letztlich den 182 000 Mitgliedern, das sind rund 2500 Franken pro Kopf. Weit grösser ist das Vermögen jener Privatpersonen und Unternehmen, die auf der politischen Gegenseite im Bedarfsfall Geld einschiessen, um gewerkschaftliche Forderungen zu bekämpfen.
Ein echtes Problem besteht vielmehr darin, dass die Mitgliederzahl der Unia in den letzten fünf Jahren um etwa 20 000 gesunken ist. Damit ist sie nicht allein, die meisten Gewerkschaften und Berufsverbände in der Schweiz kämpfen seit Jahren mit Rückgängen. Die Unia trägt aber eine besondere Verantwortung, die mitgliederdemokratische Kontrolle über ihr grosses Vermögen möglichst breit zu verankern.