Unia: Mit Couchepins Unterschrift

Nr. 42 –

Mitten in der Finanzkrise traf sich die grösste Schweizer Gewerkschaft zu ihrem ersten Kongress. Ein Blick von aussen, der beinahe zu einer Mitgliedschaft führte.


Unia ist mal wieder eingefahren. Die rote Fahne mit dem weissen Schriftzug ist nicht mehr wegzudenken von Demos und Streiks, jetzt prangt sie am Kongresspalast von Lugano: Unia. 400 Delegierte haben sich vom vergangenen Donnerstag bis zum Samstag zum ersten Kongress getroffen. Vier Jahre ist es her, seit sich vier Gewerkschaften, darunter die traditionsreichen Smuv (Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen) und GBI (Bau und Industrie), zur Grossgewerkschaft zusammengeschlossen haben.

Von einer «Gewerkschaftsmafia» schrieb die «Weltwoche» im Wahlherbst. Unia finanziere die SP, behauptete Christophe Darbellay letzte Woche (als bewiesen war: Seine CVP wird von der Credit Suisse mitfinanziert). «Rote Bilanz eines roten Riesen» wird die NZZ noch während des Kongresses über einem Inlandkommentar titeln. Wie auch immer: Die Rechten scheinen Unia sehr ernst zu nehmen. Vor dem Kongressgebäude fährt an diesem Freitagmorgen der Mercedes von Gastredner Pascal Couchepin vor.

Zu Beginn des Kongresses hat die Unia-Jugend von der Geschäftsleitung gefordert, den Bundespräsidenten wieder auszuladen. Diese hielt an der Einladung fest. Als Couchepin jetzt zum Rednerpult schreitet, verlassen zahlreiche Delegierte den Saal. «El pueblo unido» wird draussen skandiert und ein Transparent gehisst mit einer Karikatur von Couchepin: «Rentenklau, Sozialabbau, AHV? Gewerkschaftsfeind Nr. 1».

Der Bundesrat nimmts gelassen: «Am Ende werden sie schon wieder reinkommen und wissen wollen, was der alte Couchepin gesagt hat.» Er sagt: Die Gewerkschaften sind eine Schule der Demokratie. Was die Parteien für die Politik, das sind die Gewerkschaften in den Firmen und auf den Baustellen. Gesamtarbeitsverträge sind sehr wichtig. Wozu Couchepin fast nichts sagt: zur Finanzkrise. Wozu er kein Wort sagt: zur Gewerkschaftsinitiative für ein flexibles Rentenalter. Beim Hinausgehen signiert er seine Karikatur. Selbst Couchepin scheint Unia sehr ernst zu nehmen.

Der Ernst und das Leben

Unia - eine «Gewerkschaft für raue Zeiten, eine Mitmachgewerkschaft», wie Ko-Präsident Andreas Rieger sie nennt. Wer macht da schon alles mit? Wer könnte bald Mitglied werden? Wo führt das Programm hin? Wo rumort es? Kann Unia tanzen? In diesen Tagen, als die Börsenkurse ins Bodenlose fallen, werden in Lugano soziale Fragen gestellt. Hier sind Energie und Dynamik zu spüren. Vielleicht, weil sich die Linke hier selber ernst nimmt.

Weiter geht die Debatte über sechs Positionspapiere, hervorzuheben sind die beiden über die Gesamtarbeitsverträge (GAV) und über die Integrationspolitik. Auszug aus der GAV-Debatte: «Ich arbeite seit Jahren im Gastgewerbe. Da herrschen teils katastrophale Zustände. Die Angestellten im Gastgewerbe zählen auf unsere Unterstützung.»  - «Es ist endlich Zeit, einen Fachausschuss der Gärtner zu gründen. Die regionalen Gärtnergruppen müssen zusammenarbeiten. Sonst macht der Berufsverband weiter, was er will.» - «Ich spreche für den Bau. Wir müssen hart bleiben! Unser Antrag: Kernelemente des GAV müssen verteidigt werden, oder die Friedenspflicht wird relativiert.» Anträge wie diesen hätte die Geschäftsleitung lieber nur zur Prüfung entgegengenommen, doch sie werden fast alle direkt überwiesen. Von wegen FunktionärInnen, welche die Basis aufhetzen: Die denkt noch kämpferischer.

Die Eckpunkte des Papiers «Gute GAV für alle»: Die Gesamtarbeitsverträge sind das stärkste Instrument zur Regulierung der Arbeitsbedingungen. Möglichst alle Beschäftigten, auch Temporär- und Teilzeitangestellte sowie Lehrlinge, sollen davon profitieren. Der GAV muss Mindestlöhne garantieren, den Teuerungsausgleich sicherstellen, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen.

Als die Debatte über den Aktionsplan zur Integrationspolitik beginnt, wird das Licht gedämpft. Zwei jugendliche Sans-Papiers berichten aus ihrem illegalen Leben in der Schweiz. Sie konnten zwar die Schule besuchen - doch eine Lehrstelle dürfen sie nicht antreten. Der Aktionsplan fordert entsprechend eine Regularisierung der hier geborenen Sans-Papiers und einmalig eine erleichterte Einbürgerung für Jugendliche. Weitere Forderungen: eine Sprachoffensive und der Abbau von Diskriminierungen am Arbeitsplatz.

Nun spricht der nächste Gast: Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB. «Was wir heute erleben, vor aller Augen, ist das kapitale Scheitern des Monetarismus, das Scheitern des Neoliberalismus», beginnt er. Wie seine Rede weitergeht?

Selbst auf der Pressetribüne würde man jetzt gern Mitglied werden. Oder wenigstens mit ans Bankett gehen, an den Tisch der Zentralschweiz. Er finde, Unia sei gut gestartet, meint der Delegierte aus Nidwalden. Nur dürfe die Zentrale nicht zu stark sein - besser wäre mehr Unterstützung an der Basis, beispielsweise beim Aufstellen eines AHV-Standes im Dorf. Die FDP habe nämlich einen aufgestellt, gleich unter dem Gewerkschaftsbüro. Da hätte man doch wenigstens eine Fahne raushängen können. Was hingegen gut klappe, das seien die Kegel- und Grillabende.

Die Nacht endet schliesslich im Fumoir einer Luganeser Disco. Plötzlich sind sie alle da, tanzen und erzählen. Manuel, der sich bei der Zellulosefabrik Attisholz am Arbeitskampf beteiligt: «Wir müssen das Management drängen und weichklopfen, dann sitzen sie schon an den Verhandlungstisch.» Auch Cristiano ist da, der im Berner Oberland Mitglieder wirbt. «Zwölf an einem Tag ist mein Rekord. Wart mal, ich habe einen Talon dabei. Ach so, du bist nicht aus dem Berner Oberland.» Und auch Cristianos Kolleginnen Valbona und Besa sind da. Vor kurzem hat «work», die Zeitung der Unia, sie auf ihrem Cover abgebildet und gefragt, ob die beiden nicht zu hübsch seien für die Gewerkschaftsarbeit. «Das hat einigen Trubel gegeben bei den Feministinnen.» Sie bestellen noch einen Wodka-Red-Bull.

Wechsel aufgeschoben

Um Punkt 8 Uhr 15 beginnen am Samstag die Wahlen. Ziel ist eine deutlich jüngere und weiblichere Geschäftsleitung. Nachdem der Kongress beschlossen hat, die Geschäftsleitung auf neun Mitglieder zu verkleinern und ausserdem in allen Unia-Gremien eine Frauenquote von 33 Prozent einzuführen, ziehen sich allerdings die meisten neuen KandidatInnen zurück. So auch Roman Burger, der von der Bareggtunnelblockade bis zum Taxistreik bekannte Streikchoreograf: «Wenn die Berufssektoren, die Frauen, die Romandie angemessen vertreten sein sollen, sind alle Sitze schon besetzt. Damit wurde eine Chance verpasst.» Dank der Berufssektoren werden immerhin zwei neue Gesichter gewählt: Vania Alleva, 38, für den Sektor Dienstleistungen, und Corrado Pardini, 43, für den Sektor Industrie.

WOZ: Was bedeutet Unia für Sie, Vania Alleva? «Dass wir eine interprofessionelle Gewerkschaft sind und eine soziale Bewegung dazu.» Wo steht Unia nach vier Jahren? «Wir konnten, im Gegensatz zu anderen fusionierten Gewerkschaften, die Mitgliederzahl fast halten. Alle identifizieren sich mit Unia, es gibt keine Grabenkämpfe. Stärker werden müssen wir bei den Dienstleistungsberufen.» Auf ins Büro? «Erst einmal weiter beim Verkauf, beim Transport, in der Sicherheitsbranche.» An der Basis rumort es, weil die Geschäftsleitung nur teilweise verjüngt wurde. «Der Generationenwechsel bei Unia muss in den nächsten Jahren in der Zentrale sowie in den Regionen stattfinden.» Sie wurden mit einem Glanzresultat gewählt. Verkörpern Sie als Kind italienischer Eltern, als Frau, als Beauftragte für Dienstleitungsberufe die Zukunft von Unia? «Das Wahlresultat kann sicher so interpretiert werden.»

Und was meinen Sie, Corrado Pardini? «Dass nach vier Jahren kein politischer Gegner mehr an der Unia vorbeikommt. Dass eine Bewegung und eine Politisierung spürbar ist.» In welche Richtung muss es weitergehen? «Die Mitglieder müssen im Mittelpunkt stehen. Wir müssen in der Industrie stark sein - das ist auch wirtschaftspolitisch wichtig. Und der Dienstleistungssektor wird unsere grosse Wette.»

Der letzte Redner am Kongress ist Markus Husmann von der Unia-Jugend. Er fordert die Delegierten auf, eine Resolution mit dem Titel «Soziale Gerechtigkeit statt Polizeistaat» zu verabschieden. «Diverse Polizeireglemente schränken die Bürgerrechte ein. Aber genau diese Bürgerrechte haben den Kampf für soziale Gerechtigkeit erst ermöglicht. Es ist deshalb wichtig, dass wir uns als Gewerkschaften mit den Randgruppen solidarisieren.» Bravorufe aus dem Publikum. «Wir wurden schon als Mafia bezeichnet - bald sind wir die nächste kriminelle Vereinigung.» Grosser Applaus für die Resolution. So viel zum SP-Sicherheitspapier.

Unia - das sind Debatten und Aktionen, viel Style und etwas Status quo, Couchepin einladen und trotzdem rausgehen, Red-Bull-Wodka und Kegelabend. Drei Tage Unia - das ist mitten in der Schweizer Gegenwart.

Auf der Heimreise vom Kongress, als der Zug längst durch den Gotthard ist, erinnert sich ein älterer Italiener, wie er 1963 auf dieser Strecke in die Schweiz gekommen war. «Meterhoher Schnee, der Zugersee war zugefroren. Wir dachten, wir seien im Land der Pinguine.» Der Mann arbeitete sich hoch bei Siemens, blieb immer in der Gewerkschaft aktiv. «Es ist wichtig, dass die Älteren den Jungen Platz machen. Aber die Jungen müssen auch die Ärmel hochkrempeln.» Er zieht symbolisch den seinen hoch. Die Smuv-Uhr am Handgelenk tickt noch. Unia - das ist Tradition und vorwärts. 200 000 Mitglieder sind schon dabei.


Lohnverhandlungen in der Krise

Die Ausgangslage vor dem Lohnherbst war klar: Die Schweizer Wirtschaft ist seit 2004 stetig gewachsen, die Löhne hinkten hingegen der Entwicklung hinterher. Die Gewerkschaften fordern also neben dem vollen Teuerungsausgleich eine Reallohnerhöhung zwischen 1,2 und 2,5 Prozent. Inzwischen kam die Finanzkrise, und sie könnte den Lohnabhängigen einen Strich durch die Rechnung machen.

Zumindest, wenn man Thomas Daum, dem Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, glaubt: «Die grosse allgemeine Unsicherheit und die sich verschlechternden Aussichten mancher Firmen werden sich auf die Lohnanpassungen auswirken.» Für Chefökonom Daniel Lampart (Schweizerischer Gewerkschaftsbund SGB) hingegen ist klar: «Die Arbeitgeber wollen, dass wir mit unseren Forderungen zurückkrebsen, und sie versuchen, die Verhandlungen negativ zu beeinflussen.» Dabei hätten auch jetzt die meisten Unternehmen volle Auftragsbücher und könnten sich eine Reallohnerhöhung gut leisten.

Lohnerhöhungen können auch eine Stütze der Konjunktur sein, da sie über den Konsum wieder in den Wirtschaftskreislauf fliessen. Für Nico Lutz, Sprecher der Gewerkschaft Unia, handeln die UnternehmerInnen gar «hochgradig unverantwortlich», wenn sie jetzt auf substanzielle Reallohnerhöhungen verzichten und so «eine Rezession organisieren». Laut Lampart muss das Ziel jetzt sein, die Schweizer Volkswirtschaft durch eine Stärkung des Binnenmarktes «überwintern» zu lassen. Im Gegensatz zu den achtziger Jahren und zur Krise von 2001 habe es in der Schweiz keine Überhitzung der Konjunktur gegeben. Die gegenwärtige Abkühlung sei nicht hausgemacht, und die Schweiz könne grundsätzlich weiterwachsen. Ob die Patrons dieser Argumentation folgen werden, ist höchst fraglich. Für Verbandsdirektor Daum spielen solche makroökonomischen Überlegungen bei Lohnverhandlungen eine untergeordnete Rolle. Der Lohnabschluss müsse vor allem für das betroffene Unternehmen oder die Branche verkraftbar sein. Er hofft allerdings, dass die UnternehmerInnen die Situation nicht ausnutzen und «faire Verhandlungen» nicht mit Verweis auf die Finanzkrise verunmöglichen.

Die Lohnverhandlungen werden wohl hart geführt werden. Eine Verzögerung ist bereits jetzt absehbar. Lampart rechnet jedoch mit einem guten Ergebnis. Sollten die Patrons sich aber querstellen, müsse mit öffentlichem Druck nachgeholfen werden: «Es gibt ein Anrecht auf Reallohnerhöhungen.»