Industriearbeiterinnen: Die Vergessenen

Nr. 24 –

Arbeiterinnen in der Industrie kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen. Mit FeministInnen wollen sie trotzdem lieber nichts zu tun haben. Ein Plädoyer für eine Annäherung, die auch von Letzteren kommen sollte in Zeiten der erstarkenden, antifeministischen Rechten.

«Ich bin keine Feministin!», reagiert Beate auf mein Lob, während sie am Streikposten Flyer verteilt. Sie ist seit Jahrzehnten in einem Betrieb der Metallindustrie angestellt und setzt sich seit Jahren für die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten ein – als einzige Frau im Betriebsrat. «Das war am Anfang nicht ohne, ich musste mich ganz schön durchsetzen», erzählt sie über ihre ersten Jahre der Arbeit im Betriebsrat und der Gewerkschaft, einer immer noch männlich dominierten Sphäre. Sie bringt sich ein, stellt Fragen und kämpft leidenschaftlich und beharrlich für mehr Rechte für Beschäftigte und auch für Frauen ausserhalb des Betriebs. Oft kommt sie bereits vor Arbeitsbeginn, um ihre Kolleginnen nicht nur über die Betriebsratswahl zu informieren, sondern auch, um sie vor den Kollegen zu warnen, die für die AfD werben wollen. Und dennoch ist sie nicht an eine feministische Bewegung angebunden. Sie kämpft allein mit wenigen. Obwohl sie noch nie zu feministischen Treffen eingeladen wurde oder Kontakt zu denen hatte, die sich als feministische Szene betrachten, weiss sie, dass sie kein Teil davon ist.

Ich bin auf einer Konferenz zum Frauenkampftag und erlebe das, was ich selbst von einigen feministischen Treffen bereits kenne. «‹Asozial› sagt man nicht», wird eine ältere Frau zum Schweigen gebracht, als sie die heutigen Arbeitsbedingungen mit diesem Adjektiv beschreibt. Die Frau ist Tischlerin und hat sich in der DDR während eines weiterbildenden Studiums in sogenannten Frauenkreisen engagiert und Frauenhäuser aufgebaut. Mit der LGBTIQ-Bewegung und Sternchenschreibung kann sie jedoch nichts anfangen.

Nachdem sie berichtigt wurde, sagt sie nichts mehr. Arbeitsbedingungen sind während der weiteren Workshops kein Thema mehr. Jetzt geht es um Sexismus in der linken Szene, darum, nicht allein den Tisch abräumen zu wollen im besetzten Haus, es geht um die Frauenquote in guten Jobs und die Gestaltung von männerfreien Workshops. All das sind wichtige Themen. Die Sprache ist gegendert, und auch der Kleidungsstil der anwesenden Frauen erscheint auf den ersten Blick rebellisch; auf den zweiten jedoch an Einheitlichkeit orientiert. Irgendwann ist die ältere Dame nicht mehr da.

Kein Konstrukt, Realität

Zurück zu Beate: Im Betrieb ist sie oft allein mit ihrem Mut. Die meisten Männer dort belächeln sie für die Aktionen der Ortsfrauen ihrer Gewerkschaft am Frauentag. Sie bräuchte genau das, was die Feministinnen in ihren Bündnissen haben: Orte und Räume, um sich auszutauschen – und eine Gemeinschaft. Und dennoch lade ich sie nicht zum Bündnistreffen ein. Denn ich weiss, sie wäre dort kein Teil von etwas; sie wäre eine Aussenseiterin aus einer rauen, nicht erwünschten Welt. Beate bezeichnet sich als Arbeiter und nicht als Arbeiterin. Oft seufzt sie: «Typisch Männer – so sind sie halt», und findet nicht jeden sexistischen Witz skandalös. Ihre Sprache würde anecken, ihr Lebensstil als spiessig identifiziert, und niemand würde mit ihr in den Pausen sprechen.

In linken Zusammenhängen kommt es vor, dass behauptet wird, gewerkschaftliche Arbeitskämpfe in der Industrie seien veraltet und dienten lediglich zur Erhaltung von Privilegien weisser Männer. Wenn ich das höre oder lese, muss ich immer an Beate und ihre Kolleginnen denken. Ich frage mich dann, um wessen Privilegien es in dieser Diskussion wirklich geht. Beate wird davon nichts erfahren, denn diese Diskussionen werden ausschliesslich von AkademikerInnen geführt, über «sie» – diese abstrakten ArbeiterInnen.

Und so vertiefen sie sich immer weiter, die Gräben zwischen der Welt der (Fabrik-)Arbeit und der Welt derer, die darüber diskutieren, und zwar diskutieren, ohne jene zu kennen, die täglich im Morgengrauen die Fabriken betreten und versuchen, sie am Ende des Tages auch mit erhobenem Haupt wieder zu verlassen. In ihrer Welt ist der Interessengegensatz kein theoretisches Konstrukt, sondern täglich erfahrbare Realität. An Orten, wo sie einst ein Kollektiv waren, werden jetzt Kantinen gebaut, die durch eine Glaswand Angestellte von ArbeiterInnen trennen. Es ist eine Welt, in der versucht wird, die Konkurrenz unter den Beschäftigten durch die Zahlung von Prämien zu erhöhen. Eine Welt, in der 25-jährige ManagerInnen 50-jährigen FacharbeiterInnen ihre Austauschbarkeit vorhalten. In dieser Welt gibt es sie noch, die russverschmierten ArbeiterInnen, die sich durchschlagen in einem Leben voller Regeln und wenig Ertrag.

Feministische Verhaltensregeln

Diese Welt macht denen Angst, die sauber bleiben wollen. Sauber und unberührt von diskriminierenden Erfahrungen, sexistischen Sprüchen und der Einfachheit der Menschen, die gleichzeitig geprägt ist von Kollegialität und Gemeinschaft untereinander. In dieser Welt gibt es auch viele Frauen. Frauen, die sich gegen ihre Arbeitgeber zur Wehr setzen, sich unter ihren Kollegen Respekt verschaffen; aber auch Frauen, die genug haben von Schichtarbeit und Kinderbetreuung und sich nicht einbringen. Sie alle vereint eines: Sie finden in der feministischen Szene kaum Erwähnung und noch seltener Gehör.

Es ist nachvollziehbar, dass sich Frauen in einer kapitalistischen Welt, die sie zur Ware degradiert, eine Rückzugs- oder gar Wohlfühlzone schaffen, die durch Regeln sicherstellen soll, keine Diskriminierung zuzulassen. Es ist nachvollziehbar, dass insbesondere junge Frauen diese Orte suchen; es braucht diese Räume, um eigene und gemeinsame Erfahrungen zu reflektieren. Diese Räume sind aber leider oft in sich geschlossen und prägen nicht den Charakter einer «Bewegung»: Diese Welt ist starr und voller Verhaltensregeln. Aus Angst vor den Eindringlingen aus der sexistischen Aussenwelt werden hier die Regeln bisweilen so diktatorisch durchgesetzt, dass sie nicht verständlich sind für die anderen Frauen, die ebenfalls von den kapitalistischen Zwängen betroffen sind. Frauen, die nicht in linken Lesekreisen sozialisiert wurden und sich nicht vegan ernähren; Frauen, die nicht in den Büchern ihrer Kinder diskriminierende Bezeichnungen und Formulierungen schwärzen und ihre sexuelle Orientierung in den Mittelpunkt ihrer politischen Arbeit stellen; Frauen, die sich nicht über Frauenquoten in Führungsetagen den Kopf zerbrechen, sondern darüber, ob das Geld am Ende des Monats für die Miete und die Kinder reicht.

Mit den Erniedrigten der Klassenpolitik von oben hat die feministische Bewegung, wie ich sie kenne, nur partikulär zu tun. Sollten sie nicht in den «cleanen» Berufen der Care-Arbeit wie Pflege oder Erziehung arbeiten, sondern sich täglich in der industriellen Welt behaupten, tauchen sie gar nicht auf. Schlimmer noch: Sie werden sogar verurteilt. Solibesuche in Betrieben werden eher zur Beobachtung eines anderen Universums statt zu einer tatsächlichen Vernetzung mit den Akteuren und Akteurinnen in der industriellen Arbeitswelt. Doch ohne eine starke Durchsetzungskraft im Produktionskreislauf werden auch Arbeitskämpfe in der Reproduktionssphäre nicht an Macht gewinnen. Nur wenn sich beide Bereiche abstimmen und die Arbeit koordiniert niederlegen, können wir gesellschaftlich gemeinsam Druck aufbauen. Statt branchenspezifische Arbeitskämpfe getrennt zu führen, könnten in Abstimmung bessere Arbeitsbedingungen in Care-Arbeit und industrieller Arbeit erstreikt werden. Fast jedeR ArbeiterIn hat ein Kind in der Kita, der Schule oder einen Pflegefall in der Familie.

Durch die Abgrenzung zum Schutz vor Sexismus und Antifeminismus ist eine Abgrenzung nach «unten» entstanden. Viele AkteurInnen der feministischen Szene kommen erst gar nicht in Berührung mit ihnen: mit Männern, die beim Streik die Bockwürste mit blossen Händen aus dem kochenden Wasser holen, die auch mit sexistischen Sprüchen nicht geizen, und mit Frauen, die darüber lachen oder sogar selbst ähnliche Witze machen. Die Abgrenzung wird durchaus wahrgenommen von den Menschen, die sich aus den politischen Debatten ausgeschlossen fühlen, auch aus jenen der Linken. Ein Pingpongeffekt ist entstanden, bei dem jede Seite die andere irritiert, vorurteilsbeladen und oftmals abschätzig beäugt.

Was wir verpassen

Uns Feministinnen entgeht dadurch die wichtige Begegnung mit Menschen, die erbarmungslos mit den Unterdrückungsmechanismen des Kapitals konfrontiert sind, aber dadurch auch wissen, was kämpfen und zusammenhalten bedeutet. Wir verpassen, welche Stimmung erzeugt wird, wenn sich Frauen und Männer, Deutsche und MigrantInnen, Alte und Junge gemeinsam vor dem Werkstor einhaken, um beim Streik dem Chef die Einfahrt zu blockieren. Wie sie, mit Kraft in der Stimme, verkünden, dass sie zusammenhalten, dass sie kämpfen werden, weil es notwendig ist für ein kleines Stück mehr Gerechtigkeit in der täglichen Arbeitswelt – auch wenn es Risiko bedeutet.

Nur wenn wir – die in den Augen vieler ArbeiterInnen Privilegierten – unser Wissen und unsere Bildung mit denen teilen, die nicht auf unseren Tagungen und Workshops anzutreffen sind, können wir wieder eine Stärke entwickeln, um uns antifeministischen, faschistischen Akteuren entgegenzustellen, die in der gesamten Gesellschaft anzutreffen sind. Nur gemeinsam werden wir eine Chance haben, gegen die Abwertung und Ausbeutung, die wir alle erfahren, anzugehen – und Alternativen zum Kapitalismus zu entwickeln. Dazu müssen wir unsere Ängste überwinden und respektvoll denen begegnen, die uns Angst machen, weil sie nicht unseren Lifestyle teilen, um uns mit ihnen gegen die Kräfte zu richten, die eigentlich für unsere Wut verantwortlich sind. Wenn wir erkennen, dass eine Spaltung nur denen nützt, die uns ausbeuten, steht Beate vielleicht nicht mehr allein mit ihren männlichen Kollegen vorm Werkstor, um Streikaufrufe zu verteilen.

Katja Barthold ist Gewerkschaftssekretärin bei IG Metall und Journalistin. Dieser Text erschien bereits im Buch «Neue Klassenpolitik. Linke Strategien gegen Rechtsruck und Neoliberalismus», Herausgeber Sebastian Friedrich und Redaktion «analyse & kritik», Bertz + Fischer Verlag.