Serie: Alle gegen alle

Nr. 42 –

Die genauso erfolgreiche wie blutrünstige südkoreanische Serie «Squid Game» erzählt von der Brutalität des Kapitalismus. Wie subversiv ist das?

Sie stehen selbst weit unten in der Hackordnung: In «Squid Game» sollen die Soldaten «Fairness» und «Chancengleichheit» gewährleisten. Foto: Noh Juhan, Netflix

Auch im einst astronomische Wachstumsraten verzeichnenden Südkorea zeigt sich der Kapitalismus längst von der hässlichen Seite: Die Ungleichheit ist gross, Konzerne wie Samsung dominieren die Politik, die Privathaushalte sind enorm verschuldet. Wenig überraschend also, dass Filmemacher:innen dort die Klassengesellschaft als Stoff entdeckt haben.

Das war bei dem Kinofilm «Parasite» (2019) so und gilt auch für die Netflix-Serie «Squid Game». Diese erzählt von Seong Gi-hun (Lee Jung-jae), einem Taugenichts wie aus dem Bilderbuch. Der Mittvierziger, früher Industriearbeiter, heute Chauffeur, schlägt sich mehr schlecht als recht durch: Weil er seiner Tochter, die bei seiner Exfrau und deren neuem Mann lebt, unbedingt etwas zum Geburtstag kaufen will, klaut Seong seiner schwerkranken Mutter Geld, das er im Wettbüro vergebens zu vervielfachen versucht. Am Ende reicht es nur für eine Spielzeugpistole mit integriertem Feuerzeug, die ihm auch noch ein fremder Bub aus dem Greifautomaten in der Spielhalle fischen muss.

Dann aber erhält Seong die Chance, bei einem Wettbewerb mitzumachen, den eine mysteriöse Organisation ausrichtet: Auf einer Insel kommen ein paar Hundert Leute zusammen, die meisten hoch verschuldet. Dort müssen sie sich in Kinderspielen à la «Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?» messen. Dem Sieger oder der Siegerin winkt viel Geld, allerdings erfahren die Teilnehmer:innen die Regeln erst während des ersten Spiels: Wer ausscheidet, wird umgehend erschossen.

«Fall Guys» lässt grüssen

«Squid Game» ist seit Wochen die in der Schweiz wie auch weltweit meist gestreamte Netflix-Serie – zumindest laut dem Streamingdienst selbst; unabhängige Zahlen gibt es nicht. Der Erfolg dürfte nicht allein der Geschichte zu verdanken sein, die man ähnlich aus Filmen wie «Hunger Games» oder «Running Man» kennt. Originell ist dafür die Ausstattung: Die Wettkämpfe finden in einer Anlage statt, die ein James-Bond-Bösewicht aus den Sechzigern nicht besser hätte entwerfen können; Gänge und Spielfelder sind kunterbunt und grotesk überdimensioniert. Das erinnert an die Ästhetik von Videospielen wie «Fall Guys», wo virtuell ähnliche Turniere wie bei «Squid Game» ausgetragen werden.

Bemerkenswert ist die Serie aber vor allem wegen ihrer antikapitalistischen Botschaft. Besonders deutlich wird das in der bitterbösen zweiten Folge, die den Alltag der zwischenzeitlich in ihr altes Leben zurückgekehrten Protagonist:innen zeigt. Dieser ist derart perspektivlos, dass sie entscheiden, doch lieber weiter am Spiel teilzunehmen – obwohl sie dort eben erst ein Gemetzel erlebten, das den Vergleich mit dem Grabenkrieg im Ersten Weltkrieg nicht zu scheuen braucht.

Zudem streicht der Plot deutlich hervor, dass die Klassengesellschaft das Problem ist: Bald stellt sich heraus, dass die Spiele für eine Handvoll saturierter Superreicher (die allerdings arg karikiert dargestellt sind) veranstaltet werden, denen allein noch das Beobachten von Mord und Totschlag einen Kick gibt (eine gute Pointe, schlüpfen die Netflix-Zuschauer:innen doch in dieselbe Rolle). Bei den Wettkämpfen müssen dann Soldaten, die selbst in der Hackordnung unten stehen, in drolligen Uniformen penibel auf «Fairness» und «Chancengleichheit» achten, während weiter oben in der Hierarchie der Spielleiter die Rahmenbedingungen munter manipuliert – eine schöne Spitze gegen die Ideologie vom «freien» Markt.

Zugleich zeigt «Squid Game» exzessive Gewalt; die Kamera hält drauf, wenn Kugeln Schädeldecken zertrümmern und Leiber zerfetzen. Dass sich das Blutbad dabei in einem Ambiente ereignet, das an Kinderspielplätze angelehnt ist, potenziert das Grauen noch. Es ist hart an der Grenze zur Geschmacklosigkeit, wenn sich buchstäblich die Leichenberge türmen – und vermutlich dürfte gerade das einer der Gründe für die Popularität der Serie sein: Nicht nur Sex sells, sondern eben auch Splatter.

Auch der Superschurke guckt zu

Man kann all die Gewalt aber auch als überzeichnete Zurschaustellung des realen Leids lesen, das der globale Kapitalismus tagtäglich hervorbringt, doch zu einem grossen Teil an Orte auslagert, die man in reicheren Gegenden gut ausblenden kann. Die Gewaltpornografie von «Squid Game» wäre dann so etwas wie die Wiederkehr des gerne Verdrängten.

Dass so etwas millionenfach in Haushalte in aller Welt gestreamt wird, kann ja eigentlich nicht schaden. Das US-Magazin «Vulture» stellte anlässlich von «Squid Game» allerdings die interessante These auf, dass kein anderes Motiv die gegenwärtige Popkultur besser auf einen gemeinsamen Nenner bringe als das Bekenntnis, dass Kapitalismus «böse» sei. Nur: Viel getan hat sich ja deswegen bislang nicht.

Der Politologe Johannes Agnoli meinte einst sogar, dass Systemkritik im Kulturbetrieb stabilisierend wirke, da sie den Herrschenden Legitimation verschaffe – so schlimm kann es ja nicht sein, wenns in den Theatern so marxistisch tönt! Zudem verweise sie den subversiven Geist dorthin, wo er niemandem wehtue. Das klingt einerseits nach dem altbackenen Kulturindustrie-Bashing der 68er. Andererseits: Selbst Amazon-Chef Jeff Bezos, der ja ebenfalls gut einer der Superschurken in der Serie sein könnte, befand auf Twitter, dass der Erfolg von «Squid Game» «beeindruckend und inspirierend» sei.

«Squid Game». Regie/Drehbuch: Hwang Dong-hyuk. Südkorea 2021. Auf Netflix.