Digital und nachhaltig: Vom Schwarm geboren
Digitalisierung und Nachhaltigkeit – zwei Themen, die sich dringend finden müssen. Eine WOZ-Broschüre denkt die Themen zusammen. Geschrieben haben sie Leute, die sich nicht kannten und nie physisch trafen. Ein aussergewöhnliches Projekt in Zeiten von Corona.
Die Digitalisierung frisst so viel Strom wie ein grosses Land – weniger als die USA, aber mehr als Indien. Mit eingerechnet ist das Internet mit den Rechenzentren und Netzen, aber auch die Herstellung und der Verbrauch der Geräte. Der Ressourcenverbrauch dieses weltumspannenden Organismus steigt stetig. Nächste Woche liegt der WOZ eine Broschüre bei, die sich dem Thema Digitalisierung und Nachhaltigkeit widmet. Das Heft hat es in sich. Einmalig ist auch die Art, wie es entstand. Man könnte es Schwarmintelligenz nennen – fünfzehn Personen, die sich kaum kannten, haben daran mitgewirkt. Man traf sich regelmässig via Big Blue Button (BBB), ein Videotool, das ähnlich funktioniert wie Zoom oder Teams. Nur gehört BBB keinem Techkonzern, und der Programmcode ist offen zugänglich, eben Open Source. Womit der zweite Aspekt der Broschüre illustriert wäre: die digitale Nachhaltigkeit.
Es geht also um «nachhaltige Digitalisierung» und um «digitale Nachhaltigkeit». Die beiden Begriffe lassen sich leicht verwechseln und behandeln doch sehr unterschiedliche Probleme: Die «nachhaltige Digitalisierung» will die digitale Welt ressourcenschonend und klimatauglich bauen – «digitale Nachhaltigkeit» bedeutet, dass digitales Wissen langfristig, allgemein und offen zugänglich bleibt.
Wie alles begann
Rahel Estermann ist stellvertretende Generalsekretärin der Grünen Schweiz und für das Thema Digitalisierung zuständig. Vor kurzem doktorierte sie an der Universität Luzern über die Community der Datenjournalist:innen in der Schweiz. Sie erzählt, wie sie zusammen mit Panayotis Antoniadis von der Zürcher Organisation Net Hood vor einem Jahr die Idee hatte, am Winterkongress der Digitalen Gesellschaft das Thema anzugehen; die Digitale Gesellschaft ist eine Organisation, die sich dafür einsetzt, dass die digitalen Technologien den Menschen und nicht den Konzernen dienen.
In der Ausschreibung des Kongresses stand damals: «Wir imaginieren uns einen neuen Ratgeber der Digitalen Gesellschaft: ‹Eine kurze Anleitung zur digitalen Nachhaltigkeit›.» Der Ratgeber sollte sich an der Broschüre «Eine kurze Anleitung zur digitalen Selbstverteidigung» orientieren, die die WOZ vor vier Jahren herausgegeben hat. Im Workshop ging es um Fragen wie: «Tragen künstliche Intelligenz, Blockchain, das Internet der Dinge und 5G zu einer nachhaltigeren Zukunft bei – oder bringen sie uns näher zum Kollaps?»
Der Winterkongress fand wegen Corona digital statt. Doch das Thema zog. Es beteiligten sich Programmierer:innen, Studierende, Forscher:innen, Aktivist:innen und auch einige WOZ-Leute. Man beschloss, die Broschüre zu realisieren. In kleinen Gruppen wurden Beiträge verfasst und auf Etherpad gestellt, ein Onlinewerkzeug, das es erlaubt, gemeinsam an Texten zu arbeiten.
Max Frischknecht schrieb beim Thema «nachhaltige Digitalisierung» mit. Seit über zehn Jahren arbeitet er in Basel und St. Gallen als selbstständiger Grafiker. Parallel dazu studierte er visuelle Kommunikation. In seiner Masterarbeit analysierte er, wie die Schweizer Parteien im letzten Wahlkampf Daten sammelten, um die Leute mit ihrer Wahlwerbung individualisiert anzusprechen.
Weil er am Thema dranbleiben wollte, wurde er Mitglied der Digitalen Gesellschaft. Die Nachhaltigkeitsbroschüre sei aber das erste Projekt, an dem er sich beteilige. Er habe viel gelernt, obwohl er selber schon länger versuche, seinen ökologischen Fussabdruck so klein wie möglich zu halten. «Bei der Ernährung sollte man möglichst Produkte aus der Region konsumieren. Der gleiche Gedanke gilt für mich auch fürs Technische. Deshalb hoste ich zum Beispiel die Websites meiner Kund:innen auf einem Server in der Region, der mit erneuerbarer Energie betrieben wird.»
Zwei Schlüsselthemen finden sich
Christoph Schmid hat Biologie studiert und ist darauf spezialisiert, Daten aus der Biomedizin auszuwerten. Sequenzieren Forscher:innen Gene, um beispielsweise gesunde von kranken Zellen zu unterscheiden, schreibt er dazu die nötigen Programme. Er hat am Teil «digitale Nachhaltigkeit» mitgeschrieben. Schmid sagt, die Datensammelwut der grossen Techfirmen treibe ihn schon länger um. Das Ungleichgewicht zwischen den Konzernen und den Konsument:innen werde immer grösser. Als Beispiel nennt er die Schulen. Seine Lebenspartnerin ist Lehrerin. Vor Corona wurde in ihrer Schule sorgsam evaluiert, wie digitalisiert werden könnte. «Man dachte über Open-Source-Lösungen nach und war sich bewusst, dass die Daten der Minderjährigen besonders gut geschützt werden müssen.» Dann kam Corona und der Fernunterricht. Plötzlich musste alles ganz schnell gehen. Nur grosse Konzerne wie Microsoft konnten den Schulen innerhalb kurzer Zeit die benötigten digitalen Plattformen wie das Videokonferenztool Teams anbieten. Teams war ursprünglich für Unternehmen entwickelt worden. Die Lehrer:innen mussten sich erst daran gewöhnen und entsprechendes Unterrichtsmaterial entwickeln. Die Schulen würden dieses System so schnell nicht mehr verlassen, sagt Schmid, weil bereits zu viel Energie und Zeit hineingesteckt worden sei: «Zum Vorteil von etablierten Techfirmen wie Microsoft in zukünftigen Vertragsverhandlungen. Open-Source-Lösungen haben in diesem Kontext realistischerweise schlechte Chancen.»
Nana Karlstetter wohnt am östlichsten Rand Deutschlands, nahe der polnischen Grenze. Von dort aus arbeitet sie unter anderem für die Pep-Stiftung, die in Winterthur domiziliert ist und sich für Verschlüsselung und Privatsphäre im Netz einsetzt. Karlstetter hat den Nachhaltigkeitsworkshop mitorganisiert und massgeblich geholfen, das Projekt zusammenzuhalten und die komplexen Inhalte herunterzubrechen. Sie ist in beiden Themen zu Hause. Schon seit den Neunzigern ist sie im Umfeld des Chaos Computer Club unterwegs. Sie studierte Philosophie, Mathematik sowie Psychologie und promovierte zur Frage, wie sich Unternehmen transformieren müssen, um der Klimakrise begegnen zu können. Digitalisierung und Ökologie hat sie schon immer zusammengedacht. «Es hat aber gedauert, bis die beiden Kontexte sich näher gekommen sind», konstatiert sie. In den letzten zwei, drei Jahren habe sich aber einiges bewegt. Inzwischen tauchten die Fridays-for-Future-Aktivist:innen auch am Kongress des Chaos Computer Club auf. Langsam begännen die Klimabewegten, sich mit den IT-Aktivist:innen zu organisieren. Was dringend und wichtig sei, damit die notwendige Transformation der Gesellschaft gelingen könne. «Diese Zusammenarbeit funktioniert total gut», sagt Karlstetter, «das zeigte auch die Broschüre. Unkonventionell zu denken, hilft – und ist total inspirierend.»
Der Job der WOZ war es, die Broschüre zu redigieren und ansprechend zu gestalten.
Premiere an der Dinacon
Die «Kurze Anleitung zur digitalen Nachhaltigkeit» respektive «zur nachhaltigen Digitalisierung» wird am Freitag in Basel an der Dinacon, der Konferenz für digitale Nachhaltigkeit, vorgestellt. Die Berner Forschungsstelle Digitale Nachhaltigkeit organisiert die Konferenz; sie wird hybrid abgehalten. Matthias Stürmer, der Leiter der Forschungsstelle, hat ebenfalls an der Anleitung mitgearbeitet. Die gedruckte Version liegt der nächsten WOZ bei.