Elektrizitätswirtschaft: Geisterstrom im Transit
Eindringlich wird gewarnt: Achtung, der Strom wird knapp! Tatsächlich könnte es eine Mangellage geben. Doch wie schlimm wäre das?
Bundesrat Guy Parmelin (SVP) schaut ernst in die Kamera, als er vom Risiko einer «Strommangellage» spricht. Die Coronapandemie habe gelehrt, wie wichtig eine gute Vorbereitung sei. Das Video, vor einigen Wochen auf der Website der Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen (Ostral) aufgeschaltet, wirkt dramatisch.
Nur wenige Tage vor Parmelins Auftritt publizierte SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga den Bericht «Stromversorgungssicherheit Schweiz 2025», der davor warnt, dass dem Land der Strom ausgehen könnte. Der Report basiert auf einer Studie zur «Stromzusammenarbeit CH–EU», die exakte Zahlen präsentiert: Im März 2025 dürfte die Schweiz während 47 Stunden zu wenig Strom haben, im schlimmsten Fall sogar während 500 Stunden. Dann träte wohl Parmelins Schreckensszenario ein. Die Ostral, der Vertreter:innen des Bundes und der Strombranche angehören, würde dann wohl das Zepter übernehmen: Rolltreppen würden abgestellt, Saunen geschlossen, Bahn- und Trambetrieb eingeschränkt, im schlimmsten Fall gingen ganze Gebiete für Stunden vom Netz, so steht es in den Papieren der Organisation.
Europas Stromdrehscheibe
Sommaruga beeilte sich, zu versichern, Parmelins Auftritt und ihr Bericht hätten nichts miteinander zu tun, es bestehe kein Grund zur Sorge. Die Publikation ist vielmehr dem Umstand geschuldet, dass der Bundesrat im Mai die Verhandlungen mit der EU abgebrochen hat: Es gibt deshalb keinen Rahmenvertrag – und damit auch kein Stromabkommen.
Schon vor über zwanzig Jahren begann die EU mit der Liberalisierung des Strommarkts. Seither wird in Europa Strom wie Wertpapiere gehandelt. Die Schweizer Bevölkerung ihrerseits wollte den eigenen Strommarkt jedoch nicht voll liberalisieren, insbesondere aus der Befürchtung heraus, die Wasserkraftwerke könnten an ausländische Grosskonzerne verkauft werden – heute gehören sie der öffentlichen Hand. Der Schweizer Strommarkt ist heute deshalb nur teilweise liberalisiert. Grossbezüger wie Stahlwerke können an der europäischen Börse direkt günstigen Strom einkaufen. Die Haushalte werden jedoch immer noch von ihren lokalen Elektrizitätswerken versorgt.
In Sommarugas Bericht geht es nun vor allem um das Stromnetz. Das Höchstspannungsnetz, das die Schweiz mit dem Ausland verbindet, gehört der Swissgrid, deren Eigentümer wiederum die Energieunternehmen sind. Swissgrid hat eine Aufgabe: dafür zu sorgen, dass das Netz nie zusammenbricht. Es muss immer gleich viel Strom eingespeist werden, wie irgendwo verbraucht wird. Diese Aufgabe ist aber immer schwieriger zu bewältigen.
Vor vielen Jahren wurden im aargauischen Laufenburg die Stromnetze von Frankreich, Deutschland und der Schweiz zusammengeschaltet, damit sich die Länder gegenseitig helfen konnten, ihre Netze zu stabilisieren; an Stromhandel dachte damals kein Mensch. Die Schweiz ist seither die Stromdrehscheibe Europas: Kein EU-Land hat so viele grenzüberschreitende Hochspannungsleitungen. Diese Leitungen sind vergleichbar mit dem Autobahnnetz. So wie ein unendlicher Strom von Lastwagen täglich den Gotthard passiert, fliesst stetig europäische Elektrizität durchs Land. Jährlich rauschen 33 Terawattstunden Transitstrom durch – mehr als die Hälfte dessen, was jährlich im Inland verbraucht wird (56 Terawattstunden). Das ist wichtig, weil die Stromleitungen das Rückgrat eines liberalisierten Marktes sind. Ohne Leitungen gibt es keinen internationalen Stromhandel.
Die Physik und der Handel
Und jetzt kommt das Jahr 2025 ins Spiel. Ab Dezember 2025 müssen alle EU-Länder siebzig Prozent ihrer grenzüberschreitenden Stromautobahnen für den Handel offen halten. Die Idee dahinter: Die EU möchte den Stromhandel massiv ankurbeln. Offiziell, um die Energiewende zu beschleunigen. Das ist fragwürdig, weil Börsenhandel immer darauf abzielt, Gewinne zu maximieren – was im Kern nie ökologisch ist und auch der Idee einer dezentralen Versorgung widerspricht. Doch das sei einmal dahingestellt. Es bleibt die Frage, warum die Siebzig-Prozent-Regelung in der Schweiz eine Strommangellage auslösen kann.
In der realen Welt verhält sich Strom eben nicht wie Lkws. Er folgt den physikalischen Regeln und nimmt den Weg des geringsten Widerstands. Das interessiert jedoch die Stromhändler:innen nicht, sie rechnen theoretisch ab. Frankreich kauft zum Beispiel eine grosse Menge Strom von Deutschland und verkauft gleichzeitig viel Strom an Italien. Die Händler:innen rechnen, dass der Strom über die deutsch-französische respektive über die französisch-italienische Grenze fliesst. Real fliesst er aber direkt von Deutschland nach Italien. Das belastet die Schweizer Netze und treibt die Swissgrid zur Verzweiflung. Sie muss den Geisterstrom bändigen, was komplex ist und die Stabilität des hiesigen Stromnetzes bedroht. Für diese Leistung bekommt sie aber kein Geld, weil der Geisterstrom ja offiziell aussen herum fliesst.
Tritt jetzt noch die Siebzig-Prozent-Regel in Kraft, stehen weniger Kapazitäten zur Verfügung, um die internationalen Netze auszugleichen. Die grenzüberschreitenden Leitungen werden heute nämlich immer noch so genutzt, wie sie ursprünglich gedacht waren – um das europäische Netz zu stabilisieren, nicht um Strom zu handeln.
Sommarugas Bericht geht nun im Worst-Case-Szenario von einer Ausnahmesituation aus: Es ist Winter, in Frankreich fällt ein Drittel der AKWs aus, Strom ist in mehreren EU-Ländern knapp. Es wird zwar wie verrückt Strom gehandelt, die Schweiz ist aber wegen fehlender Verträge nicht eingebunden. Buchhalterisch betrachtet ist die Schweiz in dieser Situation eine Strominsel. Sind nun die eigenen Reserven erschöpft, weil die Stauseen schon leer sind und die Schneeschmelze noch nicht eingesetzt hat, müsste die Schweiz Strom importieren, um das eigene Netz stabil zu halten. Doch bekommt sie von der EU nicht das Recht, die grenzüberschreitenden Leitungen zu nutzen. Also kann sie auch nichts importieren, womit die Strommangellage eintreten würde. Und das, obwohl das Netz voll mit Geisterstrom ist.
Jetzt liesse sich argumentieren, die Schweiz könnte die EU mit dem Geisterstrom unter Druck setzen. Würde sie nämlich physisch keinen Geisterstrom mehr durchlassen, hätte Italien ein Problem. Theoretisch ist es möglich, die Grenzen für den Geisterstrom zu schliessen. Man könnte sogenannte Phasenschieber einbauen, die wie elektrische Schlagbäume wirken würden. Das wäre allerdings aufwendig und teuer, Swissgrid spricht von Investitionen von über einer Milliarde Franken. Und das Schweizer Netz würde damit nicht stabiler werden. Es wäre insgesamt eine schlechte Lösung.
Negawatts statt Gaskraftwerke
Um die Situation zu entspannen und eine gewisse Einbindung ins europäische Netz zu garantieren, schliesst Swissgrid mit den umliegenden Ländern zurzeit privatrechtliche Verträge ab. Am liebsten hätte die Betreiberin ein umfassendes Stromabkommen, mit dem das Schweizer Netz technisch ins europäische integriert werden könnte. Ein solches Abkommen wird es mit der EU aber nur bei vollständiger Strommarktliberalisierung geben – und das bleibt vorderhand umstritten. Die hochkomplexe Materie dürfte also noch einiges an Kopfzerbrechen bereiten.
Selbst wenn der Zubau von erneuerbarem Strom massiv beschleunigt wird, verschwindet das Problem nicht einfach. Sommarugas Studie zeigt, dass es im Frühjahr stets einige kritische Tage geben kann. Entsprechend dürfte bald die Forderung nach dem Bau von Gaskraftwerken aufkommen. Klüger wäre allerdings, der Bund begänne mit der Förderung von Negawatts: Das Strom-nicht-Verbrauchen kann genauso subventioniert werden wie der Zubau von Anlagen. Grossverbraucher wie etwa Stahlwerke könnten während einiger Winterwochen geordnet und bezahlt vom Netz gehen. Ein Teil der Rolltreppen, Lifte, Hallenbäder, Saunen ebenfalls.
Eine Strommangellage wäre dann keine Strommangellage, sondern eine geplante, klimaverträgliche Reduktion des Verbrauchs.