Erwachet!: Lachs für Jair und Boris
Michelle Steinbeck grüsst aus der Roten Zone
«Diese … sind überall», konstatiert eine Römerin am Sonntagmorgen vor einer weiteren Strassensperre. Wer in den letzten Tagen in der Ewigen Stadt unterwegs war, hatte jede Menge Bogen um unhandliche Militärpanzer zu machen. Im Nacken das Prickeln einer zielenden Scharfschützin, an den Rippen das Streicheln der Gewehrläufe von Fusssoldaten, im Gesicht der Luftzug hysterischer Trillerpfeifen. Tag und Nacht haben Helikopter an zivilen Ohren motorgesägt; wer an der Strasse nicht sofort zur Seite sprang, verlor an einen Raserkorso aus zugleich sirenenden und hupenden Limos ein paar Zehen.
Strassen, Plätze, ganze Stadtteile wurden in diesen Tagen gesperrt, Tausende von Sicherheitskräften eingesetzt, eine Flugverbotszone eingerichtet, der Zugang zu «Roten Zonen» verboten. So konnten die wichtigen Gäste in Ruhe etwa durch den Altar des Vaterlands schlurfen und wie auf Klassenfahrt über den Abend davor tuscheln: «Stösst dir der Dilllachs auch noch auf?» – «Dieses Sellerieteigding erst!» – «Die gedämpfte Mandarinencrème war interessant.» – «Also ich kenne italienische Küche anders.» – «Habt ihr gesehen, wie Jair den Kaffee abgelehnt hat? Ein echter Draufgänger.» – «Apropos, wie fandet ihr die Rede von Boris im Kolosseum?» – «Kolossal, hahaha.» – «Also mich hat sie inspiriert!» – «Ich hab nicht zugehört, was hat er gesagt?» – «Dass die führenden Politiker etwas gegen den Klimawandel unternehmen müssen, weil unsere Zivilisation sonst zerfällt wie das Römische Reich.» – «Find ich auch.» – «Moment. Sind das nicht wir? Die führenden …» – «Cin cin!» – «Merkel! Fistbump!» – «Habt ihr gehört, dass Sleepy Joe durch den Müll gefahren wurde?» – «Wie peinlich.» – «Für wen?» – …
So ähnlich stellen es sich jedenfalls die paar Schaulustigen vor, die an der Absperrung zehenspitzelnd darauf hoffen, ein wehendes Toupet zu erspähen. In den Medien haben sie neben der Speisekarte des Festmenüs bereits rührende Bilder gesehen: Sanitäterinnen und Pfleger, die für einmal mit aufs traditionelle Familienfoto durften – richtige Held:innen eben, die sich auch gut auf Wahlkampfselfies machen. Papa Francesco wiederum freut sich ohne Hintergedanken über das Geschenk von Narendra Modi: ein Buch über die Auswirkungen der Klimakatastrophe in Indien. Der Papst überreicht dem indischen Premierminister im Gegenzug eine Plakette mit der feinfühligen Inschrift: «Die Wüste wird zum Garten werden.»
Kalt gelassen hat das offenbar die Tausenden Protestierenden, die sich ausserhalb des militarisierten und mit einem Demonstrationsverbot belegten Stadtzentrums von Rom versammelt haben. Schüler:innen, Klimaaktivist:innen, Gewerkschaften und linke Bewegungen verbündeten sich im Kampf für Klima- und soziale Gerechtigkeit. «Ihre Lösungen sind das Problem», heisst es auf den Bannern, aber auch: «Schule, Raum, Geselligkeit. Wir holen uns alles zurück!»
Student:innen und Schüler:innen protestierten damit gegen «die Methoden der Rückkehr in die Schule» in Zeiten der Pandemie. Das herrschende Schulsystem gehorche nur den Bedürfnissen des Marktes und verstärke so die sozialen Gefälle. Die Schule werde zunehmend korporatisiert – «Wir möchten nicht mehr, wir akzeptieren es nicht mehr», schliesst der Fünftklässler Teo Pizzati seine Rede.
Michelle Steinbeck ist Lesereisende in Italien und zufällig auch Leserreporterin am G20.