Klimablockaden in den Niederlanden: Jeden Tag aufs Neue
Seit dem 9. September besetzen täglich Hunderte Aktivist:innen den Autobahnzubringer mitten in Den Haag. Was macht die Klimabewegung in den Niederlanden derzeit so stark?
Um Punkt 12 Uhr hebt Yolande Schuur das Absperrband der Polizei hoch. Dann betritt sie mit einer Gruppe anderer Aktivist:innen den sechsspurigen Autobahnzubringer Utrechtsebaan. Innerhalb weniger Sekunden haben mehrere Hundert Demonstrant:innen auf dem Asphalt Platz genommen. Aus dem Polizeilautsprecher kommt die Ankündigung, dass, anders als in den letzten Tagen, der Wasserwerfer diesmal wieder zur Räumung der Strasse eingesetzt werde. Wenig später ertönt die erste Aufforderung, die Strasse zu räumen.
Es ist das siebte Mal, dass die Klimaaktivist:innen den Zubringer zur Autobahn A12 blockieren, nur wenige Minuten vom niederländischen Parlament entfernt. Die tägliche Besetzung, die am 9. September begann, soll weitergehen, «bis die fossilen Subventionen abgeschafft sind», wie der niederländische Zweig der Klimabewegung Extinction Rebellion (XR) verkündet.
Milliarden an Subventionen
Gemeint sind damit eine Reihe direkter und indirekter Subventionen und Steuervorteile für die Nutzung fossiler Energieträger, von der Grossunternehmen, Binnenschifffahrt, Airlines, Kohlekraftwerke und Raffinerien profitieren. Seit Jahren wird in den Niederlanden darüber diskutiert. 2020 bezifferte das Wirtschafts- und Klimaministerium diese auf 4,5 Milliarden Euro jährlich. Laut Berechnungen verschiedener Umweltorganisationen sollen es aber sogar 37,5 Milliarden sein.
Die sechzigjährige Kommunikationsberaterin Yolande Schuur reist fast jeden Tag zwei Stunden mit dem Zug nach Den Haag, um an den Blockaden teilzunehmen – «weil wir hier weiter so leben, als könnten wir immer so weitermachen, während die Leute im Globalen Süden den Preis dafür bezahlen». Über Klimamärsche und eine Greenpeace-Aktion am Flughafen Schiphol stiess sie 2019 zur Bewegung. Zuvor sei sie politisch nicht aktiv gewesen. Seit einem Jahr organisiert sie nun XR-Proteste mit und fungiert als Sprecherin.
Während die Polizei ein weiteres Mal dazu aufruft, die Fahrbahn zu verlassen, analysiert Schuur, wie die Bewegung in den Niederlanden so viel Zuspruch finden konnte, dass sich XR nun an Aktionen dieser Dimension wagt. Sei die Gruppierung bis im letzten Herbst medial noch weitgehend ignoriert worden, hätten Aktionen radikaler Klimaaktivist:innen, die sich etwa an Kunstwerken festklebten, XR den Weg in die Talkshows geebnet: «Blockaden und zivilen Ungehorsam fand man im Vergleich dazu weniger radikal. Und das Repressionsniveau ist niedriger als etwa in Frankreich oder Deutschland, obwohl auch hier der Druck zunimmt.»
Gerade weil die Repression seit Anfang Jahr stärker wurde, ist der Rückhalt der Bewegung weiter gewachsen. Kurz vor einer A12-Blockade Ende Januar wurden acht Aktivist:innen wegen des entsprechenden Aufrufs verhaftet und später wegen Aufwiegelung verurteilt. Daraufhin solidarisierten sich Dutzende zivilgesellschaftliche Organisationen; unter anderem Greenpeace, Amnesty International und Oxfam Novib organisierten eine Unterstützungsdemonstration.
Ungehorsam: «Probates Mittel!»
Die Welle der Solidarität ist auch an diesem sonnigen Freitag zu spüren. Schon vor Beginn der Blockade, als sich die Aktivist:innen in verschiedenen Ecken des nahen Parks treffen, sprechen ältere Passant:innen ihnen Mut zu. «Haltet durch!», ruft eine Frau von ihrem Fahrrad. Hinter der Polizeikette machen Hunderte Unterstützer:innen lautstark auf sich aufmerksam mit Johlen, Klatschen und «You are not alone!»-Sprechchören. Es sind Menschen, die im Vorfeld erklärt haben, sich beteiligen, aber nicht verhaften lassen zu wollen.
Unter ihnen finden sich Vertreter:innen der Gruppe Teachers for Climate, andere geben sich auf Pappschildern als «Grosseltern für das Klima» zu erkennen. Auch einige Toga tragende Professor:innen stehen da. Einer von ihnen ist Joost Raessens, ein Medientheoretiker der Universität Utrecht. Er hat ein europäisches Projekt zu Green Media Studies initiiert. «Dank XR steht die Thematik jetzt auf der Agenda», sagt er. Und die Aktionsform? «Bürgerlicher Ungehorsam war in der Geschichte ein probates Mittel, um Dinge geregelt zu bekommen.»
Dass die Basis der Bewegung seit Januar enorm gewachsen ist, berichtet auch Yolande Schuur: «Jedes Mal sind es mehr Leute, die zum ersten Mal auf der Strasse sitzen.» Dazu habe auch beigetragen, dass die Wetterextreme der letzten Monate die Klimakatastrophe beständig in den Nachrichten gehalten hätten. Ein entscheidender Faktor sei zudem, dass es in den Niederlanden in den letzten Jahren eine Reihe spektakulärer Klimaprozesse gegeben habe, die zu Urteilen gegen Regierung und Konzerne geführt hätten.
Zwei Stunden Haft
Inzwischen hat der Wasserwerfer die vorderen Reihen der Blockade durchnässt, und die Verhaftungen haben begonnen. Viele hier lassen dies täglich und inzwischen routiniert über sich ergehen, im Wissen, dass sie nach zwei Stunden ohne weitere Konsequenzen und ohne dass ihre Namen gespeichert werden, wieder freikommen. Das zumindest ist die bisherige Praxis, die nach Angaben der Staatsanwaltschaft allerdings verschärft werden könnte.
Am Rand der Fahrbahn beobachtet ein junger Demonstrant, der sich als Aslan vorstellt, mit aufmerksamem Blick das Geschehen. «Ich achte auf das körperliche und mentale Wohlergehen der Leute», erklärt er. Es ist eines der Elemente, die XR für zuvor nicht politisch Aktive leichter zugänglich machen soll. Aslan, 23 Jahre alt, sagt, er sei zur Bewegung gestossen, nachdem ihm eine Arbeitskollegin davon erzählt habe. Was ihn antreibt? «Dass ich gerne noch achtzig werden würde und auch dann noch gut leben möchte.» Das Klima beschäftige ihn, seit er vierzehn sei. «Damals fand ich es schwierig, mich richtig zu äussern. Ich dachte viel nach und kam zum Schluss, dass Aktionen im Kollektiv das richtige Vorgehen sind.»
Es ist freilich keineswegs so, dass die Aktionen überall auf Sympathie stossen. Empörte Autofahrer:innen, genervt von den teils stundenlangen Blockaden, beschweren sich regelmässig. Das Boulevardblatt «Telegraaf» liess jüngst einige davon in einem Videobeitrag zu Wort kommen. Dazu berichtete eine Polizeigewerkschafterin, die Kosten der täglichen Einsätze lägen bei jeweils bis zu anderthalb Millionen Euro. Im Rest des Landes mangle es inzwischen an Polizist:innen, weil diese in Den Haag gebraucht würden.
Grosses Wahlkampfthema
Im konservativen und rechtspopulistischen Diskurs werden Aktivist:innen wie jene von XR gerne als «hysterisch» bezeichnet, auch der Ausdruck «Klimaquengler» ist weit verbreitet, oft in Kreisen, die auch über vermeintliche «Genderideologie» oder «Woke-Diktatur» herziehen. Klimamassnahmen gelten dort als überzogene Gängelung. Auch die Protestpartei Boer Burger Beweging (Bauern-Bürger-Bewegung), die im März die Provinzwahlen gewann, bedient diese Klientel. In bürgerlich-rechten Kreisen und ihren Medien ist zurzeit das Schlagwort «Klimaoptimismus» in Mode. Nicht radikale Massnahmen, sondern technologische Innovationen sollen der Schlüssel zum Klimaschutz sein. Konzerne wie Shell, RWE und KLM würden es schon richten.
Schon jetzt ist klar: Bei den Parlamentswahlen im November wird Klimapolitik nicht nur zu einem der zentralen, sondern auch der umstrittensten Themen werden. Dafür sorgen nicht nur der frühere EU-Kommissar Frans Timmermans als Spitzenkandidat des rot-grünen Wahlbündnisses (siehe WOZ Nr. 35/23), sondern auch die täglichen A12-Blockaden.
Nach deren achter Auflage am vergangenen Samstag berichtet Yolande Schuur von bislang über 4700 Verhaftungen. Für die nächsten Blockaden hätten sich schon zahlreiche Aktivist:innen angemeldet. «Wir können das noch sehr lange durchhalten.»