Wichtig zu wissen: Vielleicht erst im Frühling wieder

Nr. 44 –

Ruedi Widmer versucht sich an einem Roman

Viele machen sich ja überhaupt keine Gedanken, was die Absolvierung des gesamten Demoprogramms 2021/22/23 für einen Trychler und seine Familie bedeutet. «Dr Vatter mues wider is Taal abe go schaffe», hört man die Mutter den Kindern sagen, bevor das Oberhaupt sein Joch schultert und den beschwerlichen Weg den Hang hinab nimmt. In der Gsteig unten muss er noch durch den Felsabbruch, da ist viel lockeres Geschiebe, und das Joch dient dann auch als «Balancierstab». Schon manche Trychle ging da s Loch runter, zum Glück hat die Sozialhilfe in Weesen immer bezahlt, aber irgendwann hören die auch auf, aber gut, heute hat man ja viele Unterstützer, auch Industrielle aus der Stadt, die mal einen grossen «Freiheitsbatzen» ins Bergdorf schicken.

In Weesen unten wartet zischend der Zug in die Fremde. Auch der stolze Trychler nimmt den Stumpen aus dem Mund und legt – widerwillig – die Maske an, eine weisse, die die Grossmutter genäht hat, mit typischen St. Galler Stickereien. Die Maske und das weisse Trychlerhemd mit dem S.V.P.-Signet werden ganz grau vom Russ der Lokomotive, weil ein Lausbub das Fenster runtergekurbelt hat, der Kondukteur schimpft fest und versohlt ihm mit dem Lederriemen den Hintern, das geht natürlich nicht, wenn das Gesetz nicht eingehalten wird – «Bitte das Fenster während der Fahrt nicht öffnen – Veuillez ne pas ouvrir la fenêtre en conduisant S.V.P.» steht in goldenen Lettern angeschrieben.

Nach beschwerlicher Fahrt auf dem ruckelnden Holzsitz steigt der Trychler in Zürich am Bahnhof aus und lässt sich vom Bahnhofvorstand den Weg zum Zug in die ferne Bundeshauptstadt erklären. Der Zug nach Bern ist ein neuer, mit einer Schnellzugdampflokomotive, hei, wie das flugs geht! Aber er schüttelt und rüttelt, es ist kein Zug von der einheimischen Mechanischen Werkstätte Stadler, sondern einer aus dem Ausland. In Olten hält der Zug am Abend, und die ganze Reisegesellschaft übernachtet im Hotel. Der Trychler hat noch nie in einem Hotel übernachtet.

«Dr Vatter wird jetzt z Olte si», sagt die Mutter den Kindern und stopft Socken. «Morn isch denn dr gross Tag, wo si für d Freiheit wärde trychle.» Dabei macht sie sich Sorgen, denn der Vater wird von Bern aus am Tage nach der Demonstration die beschwerliche Reise nach Zermatt antreten müssen, um dort die in der «Walliserkanne» eingemauerten Eidgenossen freizutrycheln. Er kann zwar bei einem Bekannten des Weesener Dorfpfarrers übernachten, in Visp, doch wo das liegt? Das ist schon hinter sieben Bergen und sieben Tälern. Weit, weit weg, Babettli, hört sie sich seufzen. Hoffentlich hat sie ihm genug Brot eingepackt.

Der Vater trychelt unterdessen mit vielen anderen Trychlern – neben ihm ein Schwyzer aus Seewen, fast wie er aus Weesen – durch die dunklen Gassen von Bern. So grosse Häuser hat der Trychler seiner Lebtag noch nie gesehen. Die Berner Bürger stehen an den Fenstern und singen, juchzen und winken dem Umzug zu. Die ganze Stadt ist in Festlaune. Die Trychler werden von der Burgergemeinde empfangen, später sogar vom Bundesrat höchstpersönlich. Der Bundesrat lässt sich schnell von den Demonstranten überzeugen und schreitet noch am selben Abend zusammen mit den Trychlern zum Eidg.  Gesundheitsamt und lässt dort die Türen vernageln, sodass die Beamten eingesperrt sind und keine Massnahmen oder Impfungen mehr machen können.

Ui, wie jetzt dem Vater das Herz klopft – wie gerne würde er jetzt grad in seinem Glück seine Frau und Kinder umarmen und ihnen die Kunde vom «Wunder von Bern» überbringen, aber bis er wieder nach Hause kommt, werden noch viele Tage ins Land ziehen, und wann wird seine Frau ins Tal hinabsteigen, wo sie allenfalls eine Zeitung in die Hand bekäme? Oder ein Auswärtiger ins Bergdorf kommen, der ihr die Nachricht überbringen könnte? Vielleicht erst im Frühling wieder. (Ende 1. Teil.)

Ruedi Widmer ist Cartoonist und Romancier in Winterthur.