Kommentar zur Flüchtlingspolitik der EU: Europäischer Zynismus

Nr. 45 –

In der Flüchtlingspolitik der EU ist die nächste Eskalationsstufe erreicht. Das zeigt sich in der Kriminalisierung von Geflüchteten an den Aussengrenzen in Polen und Griechenland.

Mehrere Medien berichteten am Mittwoch von einem «Durchbruch» an der polnisch-belarusischen Grenze: Trotz Tausenden Soldat:innen sei es Geflüchteten gelungen, den Stacheldraht zu überwinden. Die meisten seien inzwischen allerdings wieder zurückgeschafft worden. Schon am Montag hatten Hunderte Personen erfolglos versucht, die EU-Aussengrenze zu überwinden. Seit Wochen stecken die Menschen im Niemandsland fest, einige haben dort ihr Leben gelassen. Der Winter wird die prekäre Lage bloss weiter verschärfen.

Doch Polen und Brüssel wollen nicht nachgeben. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sieht bloss den belarusischen Machthaber Alexander Lukaschenko wegen seiner «Instrumentalisierung von Migranten» in der Schuld. Sie bezeichnet ihn als zynisch. Die Mitgliedstaaten stützen den Kurs: Der österreichische Innenminister kündigte an, sein Land werde Polen «solidarisch zur Seite stehen» – so wie vorher auch schon Litauen und Griechenland.

So haarsträubend diese Aneignung des Solidaritätsbegriffs ist, so wichtig ist die europäische Kontextualisierung der Krise. Sie ist nicht der einzige Brandherd der menschenverachtenden Grenzpolitik, die auch die Schweiz mitträgt. Ebenfalls diese Woche haben siebzig im Fluchtbereich aktive Organisationen aus diversen europäischen Ländern eine Kampagne lanciert. Sie fordern ein Ende der Kriminalisierung Geflüchteter und die Freilassung der «Samos Two».

Anlass dafür ist ein bevorstehender Prozess in Griechenland gegen zwei Geflüchtete, die mit ihrem Boot am 8. November 2020 vor der Küste von Samos Schiffbruch erlitten. 24 Menschen hatten sich an Bord befunden. Der sechsjährige Yahya ist ertrunken. Auch, weil die griechische Küstenwache erst Stunden nach dem Hilferuf eintraf. Sein Vater Ayoubi Nadir wurde gleich nach der Rettung verhaftet und wird jetzt wegen «Kindeswohlgefährdung» angeklagt. Ihm drohen bis zu zehn Jahre Haft.

Auch ein weiterer Überlebender namens Hasan wurde gleich nach seiner Rettung verhaftet. Weil er das Boot gesteuert hatte, wird er der Schlepperei beschuldigt. Obwohl er gemäss anderen Überlebenden bloss spontan das Steuer übernahm, als das Boot in Seenot geriet. Trotzdem könnte er zu weit mehr als 230 Jahren Haft verurteilt werden – lebenslang für den Tod des Jungen sowie weitere zehn Jahre pro transportierte Person.

Der Prozess in Griechenland steht für eine grössere Entwicklung. Als Reaktion auf den «Flüchtlingssommer» 2015, als mehr als eine Million Menschen Europa erreichten, intensivierten die Staaten die Kriminalisierung von Flucht und Fluchthilfe. Basis dafür sind Gesetze, die offiziell als Massnahme gegen «Schlepperbanden» erlassen wurden, sich tatsächlich aber gegen jede «Beihilfe zur unerlaubten Einreise» von Drittstaatsangehörigen nach Europa richten. Erst im Mai wurde ein Mann in Griechenland zu 146 Jahren Haft verurteilt.

Die Anklage gegen Ayoubi Nadir ist dagegen die erste ihrer Art – und könnte damit wegweisend sein: Sollte er verurteilt werden, könnte es künftig weiteren Eltern ebenso ergehen, die mit ihren Kindern die Überfahrt wagen. Mit dem Prozess gegen die «Samos Two» erreicht die Kriminalisierung also eine neue Stufe.

2015 stand der dreijährige Alan Kurdi im Fokus der Öffentlichkeit. Auch er starb beim Versuch, mit einem Schlauchboot nach Griechenland zu gelangen. Das Foto seines an den Strand gespülten Leichnams ging um die Welt: Europas Verbrechen wurden plötzlich weithin wahrgenommen, für kurze Zeit schien ein Aufbruch möglich.

Aber so wie die Erinnerung an Alan Kurdi ist auch der leise Hoffnungsschimmer längst verblasst. Die Zuspitzung an der polnisch-belarusischen Grenze und der Fall der «Samos Two» machen deutlich: Dem Abwehrkampf gegen die Verbrechen an den Aussengrenzen stehen Staaten gegenüber, die so geeint auftreten wie selten. Auch wenn sie das Gegenteil behaupten, stehen sie doch in der Verantwortung. Auf dem Grabstein des verstorbenen Yahya steht: «Es war nicht das Meer, es war nicht der Wind, es waren die Politik und die Angst.»