Literatur: Abbrechen, aufbrechen und neue Blüten austreiben

Nr. 45 –

Die türkische Autorin Elif Shafak erzählt in «Das Flüstern der Feigenbäume» von Krieg, Herkunft, Identität und Neuverwurzelung – unter anderem aus Sicht eines Feigenbaums.

«Als ich Istanbul das letzte Mal verliess, ahnte ich nicht, dass es keine Rückkehr geben würde», sagt Elif Shafak, sonst hätte sie einen Baum vom Mittelmeer eingepackt. Foto: Ferhat Elik

Sein Name ist Ficus carica, bekannt als Feigenbaum. Grossgezogen wurde er in der zyprischen Hauptstadt Nikosia. Dort lebte er sorglos bei einer Taverne, bis die Insel geteilt wurde und türkische und griechische Bürger:innen sich bekriegten. Wer konnte, floh; andere verschwanden, starben. Der Ort verwahrloste.

Dieser Ficus carica ist ein Protagonist in Elif Shafaks neuem Roman «Das Flüstern der Feigenbäume». Die Stimme des Feigenbaums führt als eine von drei Erzählebenen durch die Liebesgeschichte von Kostas und Defne. Eine unmögliche Liebe in Zypern 1974, denn sie ist Türkin, er Grieche. Die beiden treffen sich im Hinterzimmer der Taverne «Die glückliche Feige», benannt nach dem Feigenbaum. Doch der Bürgerkrieg entzweit die beiden wie die Insel. Kostas flieht nach London, Defne bleibt zurück.

Die zweite Erzählebene führt aus Sicht von Kostas und Defne durch das Zypern von 1974 und der nuller Jahre. Ihre Liebesgeschichte ist eingebettet in die Historie der Insel. Wir erfahren, wie der Bürgerkrieg entflammt, von seinen Folgen, von der Suche nach Spuren vermisster Menschen zu Beginn des neuen Jahrhunderts. Die minutiös recherchierten Hintergründe und die Zeugenberichte, auf die sich der Roman stützt, schaffen ein eindringliches Stück dokumentarischer Literatur.

Wohlstand und Melancholie

In den nuller Jahren kreuzen sich die Wege von Kostas und Defne wieder. Der Feigenbaum ist inzwischen 96 Jahre alt und kurz davor, zu sterben. Kostas schneidet einen Ast ab. In einem schwarzen Lederkoffer verlässt der Ast mit Kostas und Defne Zypern. Während die beiden in London eine Tochter bekommen, wächst aus dem Ast ein neuer Baum. «Mein neues Zuhause in London gefiel mir. Ich versuchte, mich möglichst gut anzupassen und zugehörig zu fühlen,» sagt Ficus carica. «Trotzdem dauerte es sieben Jahre, bis ich wieder Früchte trug. Wer seine Heimat verlässt und ins Unbekannte zieht, macht dort nicht nahtlos weiter wie zuvor. Ein Teil von einem stirbt innerlich ab, damit ein anderer Teil neu beginnen kann.»

Die dritte Erzählebene ist die Stimme der sechzehnjährigen Tochter Ada im London Ende der 2010er Jahre. Sie verdeutlicht, welche Kluft zwischen den Generationen in Familien mit Migrationsgeschichte herrscht, besonders, wenn sie noch durch Krieg traumatisiert wurden. Die erste Generation versucht, in der neuen Heimat anzukommen, arbeitet auf bescheidenen Wohlstand hin. «Sie sind auf ewig dankbar für die Chancen, die ihnen das Leben eröffnet hat, und zugleich gezeichnet von dem, was es ihnen nahm.» Sie verschweigen ihre Erlebnisse, um die kommende Generation zu schonen. «Unsere Tochter wird nur dann eine gute Zukunft haben, wenn wir sie von unserer Vergangenheit abschneiden», sagt Defne.

So erfährt Ada wenig über ihre Eltern. Sie beherrscht kein Türkisch, kein Griechisch. «Keiner in diesem Haus spricht über Zypern», sagt Ada zu ihrer Tante, die nach Defnes Tod von Nikosia nach London zu Besuch kommt. Erst durch deren Erzählungen erschliesst sich Ada allmählich die Geschichte ihrer Familie.

Adas Neugier steht exemplarisch für die zweite Generation mit Migrationsgeschichte. Diese versucht, die Heimat ihrer Eltern intellektuell zu begreifen, stellt Fragen, stochert in Wunden. Und stösst damit auf Widerstand.

Ada selbst empfindet dauerhaft eine Melancholie, deren Ursprung sie nicht einzuordnen vermag. «Konnte man auch etwas so Ungreifbares, nicht Messbares wie Kummer erben?», fragt sie sich. Der Feigenbaum erzählt, dass bei der Vererbung von Familientraumata manchmal eine Generation übersprungen wird und die nächste umso intensiver leidet. Auch Pflanzen und Tiere, so erfahren wir, geben Erinnerungen generationenübergreifend weiter.

Mit der Honigbiene im Labor

Dem Feigenbaum kommt seit jeher in verschiedenen Religionen und Ländern eine besondere Bedeutung zu. Jener im Buch erzählt etwa, Buddha soll erleuchtet worden sein, als er unter einem Feigenbaum meditierte; oder dass sich Kikuyu-Frauen in Kenia bei Kinderwunsch den Saft des Feigenbaums einreiben. Die alte Kulturpflanze steht also für Fruchtbarkeit, Liebe und Erkenntnis – wie auch in Shafaks Roman.

Ficus carica nimmt uns mit auf eine Reise in die Welt aus der Perspektive von Tieren. So suchen wir mit einer Honigbiene den Ausweg aus einem Labor, in das sie sich verirrt hat. Oder wir begleiten eine Waldmaus, die sich durch eine Bibliothek frisst und dabei Klassiker von Sokrates oder Platon vertilgt. Auch von der Anpassungsfähigkeit der Ammoniten erfahren wir, und wie ihnen diese half, drei Massensterben zu überleben.

Die Vermenschlichung von Tier- und Pflanzenarten mag zu Beginn bizarr wirken, doch Elif Shafak verknüpft ihre feinsinnige Beschreibung der Natur kunstvoll mit der Erfahrungswelt ihrer Figuren. Diese verhandeln Fragen um Herkunft, Identität und Neuverwurzelung, die Folgen politischer Kriege, das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Wertesysteme – Themen, um die Shafaks gesamtes Werk kreist.

Trotz der ethnischen und religiösen Bruchlinien, die «Das Flüstern der Feigenbäume» ausleuchtet, hebt Shafak auch in diesem Roman das Verbindende hervor, für das sie stets plädiert. So steht etwa die Taverne für eine Heimat, die über Nationalitäten hinausweist und sich über Vielfalt definiert: ein Ort, wo sich Menschen mit türkischer, armenischer oder griechischer Abstammung treffen, wo «Fremde zu Freunden, Freunde zu Liebenden» werden.

Daraus lassen sich, wie aus allen Büchern von Elif Shafak, universelle Erkenntnisse für mehr Zusammenhalt im Kleinen ziehen. Auch im neuen Roman gelingt ihr dies, weil sie auf die ihr vertrauten Umgebungen – Grossbritannien und die Türkei – eine Innen- sowie eine Aussensicht hat. Es ist der Blick einer Weltenbürgerin, als die sie sich versteht. Eine, die sich trotz der Verbundenheit mit vielen Orten seit ihrer Kindheit im «selbstauferlegten Exil» fühlt, wie sie es vor zwei Jahren im Gespräch mit der WOZ formulierte (siehe WOZ Nr. 20/2019 ). Als Tochter einer Diplomatin lebte sie an vielen Orten – auch in der Türkei fühlte sie sich stets als Aussenseiterin.

Aus dem Exildasein geschöpft

Und doch: Als sie vor mehr als zehn Jahren von Istanbul nach London übersiedelte, begleitete sie erneut das Gefühl, ins Exil zu gehen. Aus diesem Exildasein scheint sie ihre Geschichten zu schöpfen. «Als ich Istanbul das letzte Mal verliess, ahnte ich nicht, dass es keine Rückkehr geben würde. Seitdem frage ich mich, was alles in meinem Koffer mitgekommen wäre, hätte ich es gewusst», schreibt sie in der Danksagung des vorliegenden Romans. Nach einiger Zeit habe sie gewusst: Gerne hätte sie einen Baum vom Mittelmeer eingepackt. Diese «unwahrscheinliche Möglichkeit» inspirierte sie schliesslich zu dieser Geschichte.

Elif Shafak ist am 16. November 2021 um 18.30 Uhr zu Gast am Institut für Auslandforschung der Universität Zürich. www.siaf.ch

Elif Shafak: Das Flüstern der Feigenbäume. Aus dem Englischen von Michaela Grabinger. Verlag Kein und Aber. Zürich 2021. 512 Seiten. 34 Franken