Kroatien: Eine Stadt wie ein Mausoleum

Nr. 46 –

1991 wurde um Vukovar die heftigste Schlacht des Kroatienkriegs geführt. Heute ist die Stadt ein nationaler Erinnerungsort und eine Gefangene der ihr zugeschriebenen Märtyrerrolle.

Durch die Einschusslöcher in der Aussenwand des Wasserturms betrachtet, bietet Vukovar das Bild einer friedlichen Kleinstadt. Ein kompaktes Zentrum, das sich rund um die Mündung des Flüsschens Vuka in die Donau ballt. Barocke Altbauten aus Habsburger Zeiten, eingerahmt von der Architektur nachfolgender Epochen. Dahinter Reihen von zwei- bis dreigeschossigen Wohnhäusern, die entlang der Hauptverkehrsstrassen allmählich ausfransen.

Das idyllische Panorama lässt nicht erahnen, dass hier vor genau dreissig Jahren die schwerste Schlacht des Kroatienkriegs tobte. Rund sechs Millionen Geschosse regneten von Ende August bis Mitte November 1991 auf die Stadt nieder. Als die jugoslawische Volksarmee und serbische Freischärler:innen am 18. November schliesslich nach 87 Tagen Belagerung in das Stadtzentrum einrückten, wo sich ein Teil der Zivilbevölkerung und kroatische Truppen verschanzt hatten, waren auf beiden Seiten mehr als tausend Menschen getötet worden und neunzig Prozent der Stadt dem Erdboden gleichgemacht.

In der Geschichtsschreibung Kroatiens nimmt der 18. November eine zentrale Rolle ein. Die jugoslawische Armee musste nach den verlustreichen Kämpfen um das «kroatische Stalingrad» ihre Hoffnungen auf ein schnelles Vorrücken begraben. Knapp einen Monat nach dem Fall der Stadt erfolgte die Anerkennung der Unabhängigkeit Kroatiens durch die Europäische Gemeinschaft. Seitdem gilt Vukovar als «Helden- und Märtyrerstadt», die durch ihr Opfer die kroatische Eigenstaatlichkeit erst möglich gemacht hat.

Zum Wallfahrtsort ausgebaut

«Mythen werden immer in Schwarz und Weiss geschrieben», sagt Bojan Glavasevic, Abgeordneter der Grünen-Fraktion Mozemo im kroatischen Parlament. Für den 37-Jährigen markiert der 18. November 1991 auch eine persönliche Zäsur – es ist der Tag, an dem seine Kindheit endete und er mit seiner Mutter ein neues Leben in der Hauptstadt Zagreb begann.

Vukovar werde immer auch «seine Stadt» bleiben, sagt Glavasevic. Die Stadt seiner Kindheit. Aber auch die Stadt, in der sein Vater Sinisa starb. Der Reporter von Radio Vukovar war nach dem Fall zusammen mit etwa 300 weiteren Menschen, die meisten Patient:innen des städtischen Spitals, von serbischen Truppen auf eine Schaffarm vor den Toren der Stadt verschleppt und ermordet worden. Seine sterblichen Überreste wurden 1997 in einem Massengrab gefunden.

«Ich weigere mich, Vukovar auf das zu reduzieren, was dort im Krieg geschehen ist», sagt Glavasevic. Doch Nationalmythen lassen wenig Raum für Differenzierung. Im ganzen Land erinnern Wandbilder an Vukovar. Typisches Motiv ist ein Meer weisser Kreuze vor der Ruine des Wasserturms. Der 18. November ist ein nationaler Gedenktag, an dem es Politikerinnen und Veteranen zur offiziellen Gedenkveranstaltung nach Vukovar zieht. «Wenn wir aber eine ganze Stadt zum Heiligtum erklären, den Raum dem Alltag entziehen, dann haben wir keine Stadt mehr», ist Bojan Glavasevic überzeugt. Stattdessen werde ein lebendiger Ort zum Mausoleum.

Im Gegensatz zu den übrigen serbisch besetzten Gebieten Kroatiens, die die kroatische Armee im Sommer 1995 zurückerobert hat, wurde Vukovar nach Verhandlungen zwischen beiden Seiten Ende der neunziger Jahre friedlich reintegriert. Seitdem hat der kroatische Staat mehrere Hundert Millionen Euro in den Wiederaufbau investiert. Der barocke Altstadtkern wurde restauriert. In direkter Nachbarschaft entstanden Shoppingzentren, Verwaltungsgebäude und ein Kinokomplex.

Gleichzeitig wurde Vukovar zum Wallfahrtsort mit einem Dutzend Gedenkorten ausgebaut: dem Gedenkfriedhof mit dem Meer weisser Kreuze, der Gedenkstätte Ovcara für die Opfer des Massakers und dem Gedenkhaus an der Ausfallstrasse nach Trpinje, die in ganz Kroatien als «Panzerfriedhof» bekannt wurde. Einer der damals zerstörten Panzer steht heute vor dem Eingang des Gebäudes.

Am nationalen Mythos Vukovar zu rühren, kann in Kroatien gefährlich werden. Jüngstes Beispiel für seine «Unantastbarkeit» waren die Reaktionen auf eine Kolumne des Journalisten Boris Dezulovic. Unter dem Titel «Jebo vas Vukovar» (sinngemäss: Schiebt euch Vukovar in den Arsch) beklagte dieser Anfang November, dass der «einbalsamierte Leichnam» Vukovars seit dreissig Jahren als Gradmesser für Patriotismus herhalten müsse, dass das Gedenken politisch instrumentalisiert werde, während die Stadt langsam ausblute. Es sind im Prinzip die gleichen Vorwürfe, die auch Bojan Glavasevic erhebt – nur in derberer Sprache ausgedrückt.

Dezulovics Text brachte das kroatische Veteranenministerium derart auf, dass es ihn in einer Stellungnahme als «Angriff auf die fundamentalen Werte» Kroatiens bezeichnete. Seitdem reissen die Beleidigungen und Morddrohungen gegen Dezulovic nicht ab. Anlass für dessen Tirade waren unlängst veröffentlichte Statistiken, wonach Vukovar seit der letzten Volkszählung 2011 ein Fünftel seiner Einwohner:innen verloren hat – allen Investitionen zum Trotz. Vor dem Krieg lebten in Vukovar beinahe 50 000 Menschen – heute sind es noch etwa 22 000.

Konservierte Narben

Dijana Antunovic Lazic hat die guten Zeiten noch miterlebt. Damals, als man in ihrer Clique zwar wusste, wer Kroate oder Serbin ist, dem aber wenig Bedeutung beimass. Für sie endete das alte Vukovar am 25. Juni 1991 – an dem Abend, an dem ihre alte Clique das letzte Mal gemeinsam ausging. Wenige Wochen später standen sich einige ihrer Freund:innen als Feind:innen gegenüber.

Heute leitet Antunovic Lazic die NGO Europäisches Haus im «neuen» Vukovar – einer Stadt, in der sich alles um die Frage zu drehen scheint, ob man Kroatin oder Serbe ist. Serb:innen und Kroat:innen frequentieren in der Regel unterschiedliche Gaststätten und Kultureinrichtungen. Die Kinder in der Stadt besuchen zwar dieselben Schulen, jedoch in getrennten Schichten. «Das bereitet uns am meisten Probleme», sagt Antunovic Lazic, «dass von klein auf alles auf Teilung ausgelegt ist.»

Mit dem Europäischen Haus versucht sie dagegenzuhalten: mit Konferenzen, Jugendfreizeitprogrammen oder Fortbildungsseminaren, die sich nicht nur an jeweils eine Gemeinschaft richten. Das sei nötiger denn je, betont sie: «Denn in Vukovar ist jetzt schon eine Generation aufgewachsen, die die Spaltung gar nicht mehr als Problem wahrnimmt. Das ist für die ganz normal.»

Wenn sich am 18. November die Teilnehmer:innen der Gedenkprozession unter dem Wasserturm von Vukovar sammeln, können sie ein frisch renoviertes Mahnmal in Augenschein nehmen. Zwischen sechs und sieben Millionen Euro wurden in die Konservierung des zerschossenen Wahrzeichens investiert. Stahlträger stützen das Bauwerk, eine Glashülle umgibt den oberen Teil des Turms und schützt die Einschusslöcher vor Verwitterung. Die Narben der Schlacht sollen für künftige Generationen sichtbar bleiben.